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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Titel: Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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nicht eingehackte Nase waren eines echt germanischen Akademikers unwürdig. So sahen sich die Couleurstudenten, das heißt solche, die einer farbentragenden Verbindung angehörten, genötigt, um immer neue ›Partien schlagen‹ zu können, sich gegenseitig und andere völlig friedfertige Studenten und Offiziere unablässig zu provozieren. In den ›Verbindungen‹ wurde auf dem Fechtboden jeder neue Student für diese würdige Haupttätigkeit ›eingepaukt‹ und auch sonst in die Gebräuche des Burschenschaftswesens eingeweiht. Jeder ›Fuchs‹, das heißt jeder Neuling, wurde einem Corpsbruder zugeteilt, dem er sklavischen Gehorsam zu leisten hatte und der ihn dafür in den edlen Künsten des ›Komments‹ unterwies, die da waren: bis zum Erbrechen zu saufen, einen schweren Humpen Bier in einem Satz bis zur Nagelprobe (bis zum letzten Tropfen) zu leeren, um so glorreich zu erhärten, daß er kein ›schlapper Bursche‹ sei, oder Studentenlieder im Chor zu brüllen und im Gänsemarsch nachts durch die Straßen randalierend die Polizei zu verhöhnen. All das galt als ›männlich‹, als ›studentisch‹, als ›deutsch‹, und wenn die Burschenschaften mit ihren wehenden Fahnen, bunten Kappen und Bändern samstags zum ›Bummel‹ aufzogen, fühlten sich diese einfältigen, durch ihr eigenes Treiben in einen sinnlosen Hochmut getriebenen Jungen als die wahren Vertreter der geistigen Jugend. Mit Verachtung sahen sie auf den ›Pöbel‹ herab, der diese akademische Kultur und deutsche Männlichkeit nicht gebührend zu würdigen verstand.
    Für einen kleinen Provinzgymnasiasten, der als grüner Junge nach Wien kam, mochte wohl diese Art forscher und ›fröhlicher Studentenzeit‹ als Inbegriff aller Romantik gelten. Noch jahrzehntelang sahen in der Tat die bejahrten Notare und Ärzte in ihren Dörfern weinselig gerührt empor zu den in ihrem Zimmer gekreuzt aufgehängten Schlägern und bunten Attrappen, stolz trugen sie ihre Schmisse als Kennzeichen ihres ›akademischen‹ Standes. Auf uns dagegen wirkte dieses einfältige und brutale Treiben einzig abstoßend, und wenn wir einer dieser bebänderten Horden begegneten, wichen wir weise um die Ecke; denn uns, denen individuelle Freiheit das Höchste bedeutete, zeigte diese Lust an der Aggressivität und gleichzeitige Lust an der Hordenservilität zu offenbar das Schlimmste und Gefährlichste des deutschen Geistes. Überdies wußten wir, daß hinter dieser künstlich mumifizierten Romantik sich sehr schlau berechnete, praktische Ziele versteckten, denn die Zugehörigkeit zu einer ›schlagenden‹ Burschenschaft sicherte jedem Mitglied die Protektion der ›alten Herren‹ dieser Verbindung in den hohen Ämtern und erleichterte die spätere Karriere. Von den Bonner ›Borussen‹ führte der einzig sichere Weg in die deutsche Diplomatie, von den katholischen Verbindungen in Österreich zu den guten Pfründen der herrschenden christlich-sozialen Partei, und die meisten dieser ›Helden‹ wußten genau, daß ihre farbigen Bänder ihnen in Hinkunft ersetzen mußten, was sie an eindringlichen Studien versäumt, und daß ein paar Schmisse auf der Stirne ihnen bei einer Anstellung einmal förderlicher sein konnten, als was hinter dieser Stirne war. Schon der bloße Anblick dieser rüden, militarisierten Rotten, dieser zerhackten und frech provozierenden Gesichter hat mir den Besuch der Universitätsräume verleidet; auch die anderen, wirklich lernbegierigen Studenten vermieden, wenn sie in die Universitätsbibliothek gingen, die Aula und wählten lieber die unscheinbare Hintertür, um jeder Begegnung mit diesen tristen Helden zu entgehen.
    Daß ich an der Universität studieren sollte, war im Rate der Familie von je beschlossen gewesen. Aber für welche Fakultät mich entscheiden? Meine Eltern ließen mir die Wahl vollkommen frei. Mein älterer Bruder war bereits in das väterliche Industrieunternehmen eingetreten, demgemäß lag für den zweiten Sohn keinerlei Eile vor. Es handelte sich schließlich doch nur darum, der Familienehre einen Doktortitel zu sichern, gleichgültig welchen. Und sonderbarerweise war die Wahl mir ebenso gleichgültig. An sich interessierte mich, der ich meine Seele längst der Literatur verschrieben, keine einzige der fachmäßig dozierten Wissenschaften, ich hatte sogar ein geheimes, noch heute nicht verschwundenes Mißtrauen gegen jeden akademischen Betrieb. Für mich ist Emersons Axiom, daß gute Bücher die beste Universität ersetzen,

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