Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
literarischen Beilagen ganze Bände mit den größten Namen der Zeit dar: Anatole France, Gerhart Hauptmann, Ibsen, Zola, Strindberg und Shaw fanden sich bei dieser Gelegenheit zusammen in diesem Blatte, das für die literarische Orientierung der ganzen Stadt, des ganzen Landes unermeßlich viel getan hat. Selbstverständlich ›fortschrittlich‹ und liberal in seiner Weltanschauung, solid und vorsichtig in seiner Haltung, repräsentierte dieses Blatt in vorbildlicher Art den hohen kulturellen Standard des alten Österreich.
Dieser Tempel des ›Fortschritts‹ barg nun noch ein besonderes Heiligtum, das sogenannte ›Feuilleton‹, das wie die großen Pariser Tageszeitungen, der ›Temps‹ und das ›Journal des Débats‹, die gediegensten und vollendetsten Aufsätze über Dichtung, Theater, Musik und Kunst ›unter dem Strich‹ in deutlicher Sonderung von dem Ephemeren der Politik und des Tages publizierte. Hier durften nur die Autoritäten, die schon lange Bewährten zu Wort kommen. Einzig die Gediegenheit des Urteils, vergleichende Erfahrung vieler Jahre und vollendete Kunstform konnten einen Autor nach Jahren der Erprobtheit an diese heilige Stelle berufen. Ludwig Speidel, ein Meister der Kleinkunst, Eduard Hanslick hatten für Theater und Musik dort die gleiche päpstliche Autorität wie Sainte-Beuve in Paris in seinen ›Lundis‹; ihr Ja oder Nein entschied für Wien den Erfolg eines Werks, eines Theaterstücks, eines Buches und damit oft eines Menschen. Jeder dieser Aufsätze war das jeweilige Tagesgespräch der gebildeten Kreise, sie wurden diskutiert, kritisiert, bewundert oder befeindet, und wenn einmal ein neuer Name inmitten der längst respektvoll anerkannten ›Feuilletonisten‹ auftauchte, bedeutete dies ein Ereignis. Von der jüngeren Generation hatte einzig Hofmannsthal mit einigen seiner herrlichen Aufsätze dort gelegentlich Eingang gefunden; sonst mußten jüngere Autoren sich beschränken, rückwärts im Literaturblatt versteckt, sich einzuschmuggeln. Wer auf der ersten Seite schrieb, hatte seinen Namen für Wien in Marmor gegraben.
Wie ich die Courage fand, eine kleine dichterische Arbeit der ›Neuen Freien Presse‹, dem Orakel meiner Väter und der Heimstatt der siebenfach Gesalbten, anzubieten, ist mir heute nicht mehr faßbar. Aber schließlich, mehr als eine Zurückweisung konnte mir nicht widerfahren. Der Redakteur des Feuilletons empfing dort bloß an einem Tage der Woche zwischen zwei und drei Uhr, da durch den regelmäßigen Turnus der berühmten, festangestellten Mitarbeiter nur ganz selten Raum für die Arbeit eines Außenseiters war. Nicht ohne Herzklopfen stieg ich die kleine Wendeltreppe zu dem Büro empor und ließ mich anmelden. Nach einigen Minuten kam der Diener zurück, der Herr Feuilletonredakteur lasse bitten, und ich trat in das enge, schmale Zimmer.
Der Feuilletonredakteur der ›Neuen Freien Presse‹ hieß Theodor Herzl, und es war der erste Mann welthistorischen Formats, dem ich in meinem Leben gegenüberstand – freilich ohne selbst zu wissen, welch ungeheure Wendung seine Person im Schicksal des jüdischen Volkes und in der Geschichte unserer Zeit zu erschaffen berufen war. Seine Stellung war damals noch zwiespältig und unübersehbar. Er hatte mit dichterischen Versuchen begonnen, früh eine blendende journalistische Begabung gezeigt und war zuerst als Pariser Korrespondent, dann als Feuilletonist der ›Neuen Freien Presse‹ der Liebling des Wiener Publikums geworden. Seine Aufsätze, heute noch bezaubernd durch ihren Reichtum an scharfen und oft weisen Beobachtungen, ihre stilistische Anmut, ihren edlen Charme, der selbst im Heiteren wie Kritischen nie die eingeborene Noblesse verlor, waren das Kultivierteste, was man sich im Journalistischen erdenken konnte, und das Entzücken einer Stadt, die für Subtiles den Sinn sich geschult hatte. Auch im Burgtheater hatte er mit einem Stück Erfolg gehabt, und nun war er ein angesehener Mann, vergöttert von der Jugend, geachtet von unseren Vätern, bis eines Tages das Unerwartete geschah. Das Schicksal weiß immer sich einen Weg zu finden, um den Menschen, den es braucht für seine geheimen Zwecke, heranzuholen, auch wenn er sich verbergen will.
Theodor Herzl hatte in Paris ein Erlebnis gehabt, das ihm die Seele erschütterte, eine jener Stunden, die eine ganze Existenz verändern: er hatte als Korrespondent der öffentlichen Degradierung Alfred Dreyfus’ beigewohnt, hatte gesehen, wie man dem bleichen
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