Lichtjahreweit
Die große Verknollung
Als ich Ende 1982 die »Große Verknollung« schrieb, bestand noch Hoffnung, die Stationierung amerikanischer Pershing-2-Raketen und Cruise Missiles auf dem Boden der Bundesrepublik Deutschland zu verhindern. Inzwischen sind die Raketen stationiert – trotz des Einsatzes von Millionen Menschen, trotz der Massendemonstrationen in Bonn, trotz des Widerstandes der Mehrheit der Bevölkerung. Aber die Kalkulation der Atomkrieger in Bonn und Washington, daß der Protest sich legen, die Friedensbewegung zerfallen würde, wenn erst vollendete Tatsachen geschaffen sind, hat sich nicht erfüllt. Die Friedensbewegung besteht noch immer, und nichts deutet darauf hin, daß sich daran in Zukunft etwas ändern wird. Wie diese »friedensbewegte« Zukunft vielleicht aussehen könnte, zeigt die vorliegende Erzählung …
Der Gedanke, in die Friedensbewegung einzusteigen und den schamlosen Apologeten des militärisch-industriellen Komplexes tüchtig in den Arsch zu treten, kam Alf am ersten grauen Septembermorgen des neuen, frischen Jahrtausends – zufällig an dem gleichen Tag, an dem zehn Milligramm der Spore KMK-37 Professor Onnedeckers Nylonsockenhalter verklebten und so die strengstens gesicherten genetischen Laboratorien der Rayer-Chemie verließen. Auslöser für Alfs gescheiten Einfall waren Erikas kolossale Birnenbrüste, an denen er kurz nach dem Aufwachen zu saugen begonnen hatte, und ihr verschlafenes: »Tu’s, Alfie. Jesus, wie die das mögen!«
Was mach’ ich eigentlich hier? fragte sich Alf irritiert. Unschlüssig beäugte er Erikas aufgerichtete Brustwarzen, und für einen abseitigen Moment hielt er sie für die pinkfarbenen Augen einer extraterrestrischen Lebensform, die von den Sternen herabgestiegen war, um ihn und die übrige Menschheit auszuspionieren.
»Jeden Tag«, sagte er laut, »produzieren die unterirdischen Waffenfabriken in Wyoming eine neue Cruise Missile, und ich treibe Unzucht mit einer Außerirdischen. Herr im Himmel, was für eine Schande!«
Natürlich wußte er noch nichts von Onnedeckers tragischem Mißgeschick und der bevorstehenden Gen-Katastrophe in Heilbronn. Selbst Onnedecker war völlig ahnungslos – von den fünfzig Millionen mündigen Bürgern der Republik ganz zu schweigen.
»Was is’n los?« murmelte Erika und öffnete eines ihrer Augen – das rechte, wie Alf sogleich bemerkte. »Was soll’n dieser Scheiß? Entweder ganz oder gar nicht.«
Professor Onnedecker bestieg in diesem Moment seinen Dienstwagen und tippte dem Chauffeur – einem undurchsichtigen DDR-Emigranten, der sich ein Zubrot als Coverboy des Deutschland-Magazins verdiente – auffordernd auf die Schulter. Rasch ließ der Chauffeur ein Miniaturfunkgerät in der linken Jackentasche verschwinden und sagte: »Motor anlassen.« Der Wagen sprang an. Irgendwo in den Katakomben von Ost-Berlin schaltete ein frustrierter, unterbezahlter Stasi-Mann seine tragbare Radiostation ab und reihte sich in die Schlange der anderen Stasi-Männer vor dem Kaffeeautomaten ein.
Alfs Erektion begann indessen zu erschlaffen. »Weißt du eigentlich«, wandte er sich an Erika, »daß allein auf dem Boden unserer Republik mehrere tausend Atomsprengköpfe lagern? Wenn die alle auf einmal hochgehen … nicht auszudenken!«
»Im Moment«, wandte Erika mit dem Sinn fürs Praktische ein, »geht nur was ’runter.«
»Manchmal habe ich das Gefühl, daß wir aneinander vorbeireden«, sagte Alf. Mit einem Seufzer rollte er von Erika und auf seine Betthälfte. Die Matratze quietschte. Das Bett rief heiter: »Guten Morgen! Auf, auf, die Sonne lacht! Ha, ha!« Durch die löchrigen Jalousien fiel graues Licht, das nicht dazu angetan war, Alfs bedrückte Stimmung zu heben. Er fühlte sich seltsam leer, und das konnte nicht nur daran liegen, daß er noch nicht gefrühstückt hatte.
Vielleicht war es kein Zufall, daß in dieser Sekunde der große Müsliburger-Skandal aufgedeckt wurde, und Elmar Hintermstein, Fast-Food- Referent im Bonner Gesundheitsministerium, mitsamt seiner handbetriebenen Kornmühle aus dem Fenster des Ministerbüros sprang. Vielleicht hatte Alf auf esoterischem Wege Hintermsteins Todesschrei oder das bekümmerte Mahlen der Kornmühle vernommen. Oder es bestand eine unterbewußte telepathische Verbindung zwischen ihm und Professor Onnedecker, der sich zu diesem Zeitpunkt auf den Rücksitz der Rayer-Chemie-Limousine flegelte und seine Manneskraft prüfte. Der Chauffeur nutzte die Gelegenheit zu einem
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