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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Titel: Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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Person werde der Auflösungsprozeß der tausendjährigen Monarchie nicht mehr aufzuhalten sein. Innen wuchs der Druck der Nationalitäten gegeneinander, außen warteten Italien, Serbien, Rumänien und in gewissem Sinne sogar Deutschland, sich das Reich aufzuteilen. Der Balkankrieg, wo Krupp und Schneider-Creusot ihre Kanonen gegeneinander an fremdem ›Menschenmaterial‹ ausprobierten, wie späterhin die Deutschen und Italiener ihre Flugzeuge im spanischen Bürgerkrieg, zog uns immer mehr in die kataraktische Strömung. Immer schreckte man auf, aber um immer wieder aufzuatmen: ›Diesmal noch nicht. Und hoffentlich nie!‹

    Nun ist es erfahrungsgemäß tausendmal leichter, die Fakten einer Zeit zu rekonstruieren als ihre seelische Atmosphäre. Sie findet ihren Niederschlag nicht in den offiziellen Geschehnissen, sondern am ehesten in kleinen, persönlichen Episoden, wie ich sie hier einschalten möchte. Ich habe, ehrlich gesagt, damals nicht an den Krieg geglaubt. Aber zweimal habe ich gewissermaßen wach von ihm geträumt und bin mit erschrockener Seele aufgefahren. Das erste Mal geschah es bei der ›Affäre Redl‹, die wie alle wichtigen Hintergrundepisoden der Geschichte wenig bekannt ist.
    Diesen Oberst Redl, den Helden eines der kompliziertesten Spionagedramen, hatte ich persönlich nur flüchtig gekannt. Er wohnte eine Gasse weit im selben Bezirk, einmal hatte mich im Café, wo der gemütlich aussehende, genießerische Herr seine Zigarre rauchte, mein Freund, der Staatsanwalt T., ihm vorgestellt; seitdem grüßten wir einander. Aber später erst entdeckte ich, wie sehr wir mitten im Leben vom Geheimnis umstellt sind, und wie wenig wir von Menschen im nächsten Atemraum wissen. Dieser äußerlich wie ein guter österreichischer Durchschnittsoffizier aussehende Oberst war der Vertrauensmann des Thronfolgers; ihm war das wichtige Ressort anvertraut, den Secret Service der Armee zu leiten und den der gegnerischen zu konterkarieren. Nun war durchgesickert, daß 1912 während der Krise des Balkankrieges, da Rußland und Österreich gegeneinander mobilisierten, das allerwichtigste Geheimstück der österreichischen Armee, der ›Aufmarschplan‹, nach Rußland verkauft worden war, was im Kriegsfall eine beispiellose Katastrophe hätte verursachen müssen, denn die Russen kannten damit im voraus Zug um Zug jede taktische Bewegung der österreichischen Angriffsarmee. Die Panik in den Kreisen des Generalstabs über diesen Verrat war fürchterlich; Oberst Redl als oberstem Fachmann oblag nun die Aufgabe, den Verräter zu entdecken, der ja nur im allerengsten höchsten Kreise zu finden sein konnte. Auch das Außenministerium, dem Geschick der Militärbehörden nicht ganz vertrauend, gab – ein typisches Beispiel für das eifersüchtige Gegeneinanderspielen der Ressorts –, ohne den Generalstab zu verständigen, seinerseits Parole aus, unabhängig nachzuforschen, und beauftragte die Polizei, neben allen anderen Maßnahmen zu diesem Behufe alle poste restante Briefe aus dem Ausland ohne Rücksicht auf das Briefgeheimnis zu öffnen.
    Eines Tages traf nun bei einem Postamt ein Brief aus der russischen Grenzstation Podwoloczyska an die poste restante Adresse Chiffre ›Opernball‹ ein, der, als er geöffnet wurde, kein Briefblatt enthielt, dagegen sechs oder acht blanke österreichische Tausendkronennoten. Sofort wurde dieser verdächtige Fund der Polizeidirektion gemeldet, die Auftrag gab, einen Detektiv an den Schalter zu setzen, um die Person, welche jenen verdächtigen Brief reklamieren würde, unverzüglich zu verhaften.
    Für einen Augenblick begann sich die Tragödie ins Wienerisch-Gemütliche zu wenden. Zur Mittagsstunde erschien ein Herr, verlangte den Brief unter der Bezeichnung ›Opernball‹. Der Schalterbeamte gab sofort das verdeckte Warnungssignal an den Detektiv. Aber der Detektiv war gerade zum Frühschoppen gegangen, und als er zurückkam, konnte man nur mehr feststellen, daß der fremde Herr einen Fiaker genommen habe und in unbekannter Richtung weggefahren sei. Rasch aber setzte der zweite Akt der wienerischen Komödie ein. In jener Zeit der Fiaker, dieser fashionablen, eleganten Zweispänner, betrachtete sich der Fiakerkutscher als eine viel zu vornehme Persönlichkeit, um seinen Wagen eigenhändig zu reinigen. An jedem Standplatz befand sich daher ein sogenannter ›Wasserer‹, dessen Funktion es war, die Pferde zu füttern und das Zeug zu waschen. Dieser Wasserer hatte sich nun

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