Tanz der seligen Geister (German Edition)
Der Walker Brothers-Cowboy
Nach dem Abendbrot sagt mein Vater: »Magst du runtergehen und nachschauen, ob der See noch da ist?« Wir lassen meine Mutter unter der Esszimmerlampe nähen, Sachen für mich zum Schulanfang. Sie hat dafür ein altes Kostüm und ein altes kariertes Wollkleid von sich aufgetrennt, sie muss sehr geschickt zurechtschneiden und zusammenheften, und ich muss für endlose Anproben dastehen und mich umdrehen, die warme Wolle juckt, ich schwitze und bin undankbar. Wir lassen meinen Bruder im Bett in dem kleinen Wintergarten auf der vorderen Veranda, und manchmal kniet er auf seinem Bett, presst das Gesicht ans Fliegengitter und ruft traurig: »Bring mir eine Eistüte mit!«, aber ich rufe zurück: »Dann schläfst du schon«, und drehe nicht mal den Kopf um.
Dann gehen mein Vater und ich gemächlich eine lange, ärmliche Straße entlang. Silverwoods Ice Cream-Schilder stehen auf dem Bürgersteig vor winzigen, erleuchteten Geschäften. Wir sind in Tuppertown, einem alten Getreidehafen am Huron-See. Die Straße ist an manchen Stellen schattig, da, wo Ahornbäume wachsen, deren Wurzeln den Bürgersteig aufgeworfen und gesprengt haben und sich wie Krokodilein die kahlen Vorgärten hinstrecken. Leute sitzen draußen, Männer in Hemdsärmeln oder Unterhemden und Frauen in Kittelschürzen – keine Leute, die wir kennen, aber wenn jemand uns zunickt und »Warmer Abend« sagt, dann nickt mein Vater auch und erwidert etwas in derselben Art. Kinder spielen noch. Die kenne ich auch nicht, denn meine Mutter lässt meinen Bruder und mich nur in unserem Garten spielen, sie sagt, er ist noch zu klein für draußen und ich muss auf ihn aufpassen. Es macht mich gar nicht besonders traurig, ihren abendlichen Spielen zuzusehen, denn diese Spiele sind zerfasert, lösen sich auf. Die Kinder trennen sich freiwillig, bilden allein oder zu zweit Inseln unter den alten Bäumen und gehen so einsamen Beschäftigungen nach, wie ich es den ganzen Tag lang tue, pflanzen Steinchen in den Sand oder schreiben darin mit einem Stöckchen.
Jetzt lassen wir diese Häuser hinter uns, wir kommen an einer Fabrik mit vernagelten Fenstern vorbei, an einem Holzhandel, dessen hohes Tor für die Nacht abgeschlossen ist. Dann zieht sich die Stadt zurück und zerfällt in ein Durcheinander aus Schuppen und kleinen Schrottplätzen, der Bürgersteig verendet, und wir gehen auf einem Sandweg weiter, mit Kletten, Wegerich und namenlosem, niedrigem Unkraut ringsum. Wir betreten ein leeres Grundstück, eigentlich so etwas wie ein Park, denn Abfälle werden weggeräumt und es gibt eine Bank, in deren Lehne eine Bohle fehlt,einen Platz, um sich hinzusetzen und aufs Wasser zu schauen. Das am Abend meistens grau ist, unter einem leicht bedeckten Himmel, keine Sonnenuntergänge, der Horizont verschwommen. Ein ganz leises Plätschern auf den Steinen am Ufer. Ein Stück weiter, zur Stadtmitte hin, ist ein Sandstrand, eine Wasserrutsche, Bojen, die um den geschützten Badebereich tanzen, der wacklige Thron eines Bademeisters. Auch ein langgestreckter dunkelgrüner Bau wie eine überdachte Veranda, er heißt Der Pavillon und ist sonntags voller Farmer und ihrer Frauen in ihrem steifen Staat. Das ist der Teil der Stadt, den wir früher kannten, als wir in Dungannon wohnten und im Sommer drei oder vier Mal hierherkamen, an den See. Dieser Teil und die Docks, zu denen wir gingen, um die schlingernden Getreideschiffe zu betrachten, so uralt und verrostet, dass wir uns fragten, wie sie es am Wellenbrecher vorbeischafften, geschweige denn bis nach Fort William.
Landstreicher lungern an den Docks herum, und gelegentlich stiefeln sie an diesen Abenden am Strand entlang, klettern dann, sich an verdorrtem Gesträuch festhaltend, den veränderlichen, riskanten Pfad hoch, den Jungs gebahnt haben, und sagen etwas zu meinem Vater, das ich, da ich mich vor Landstreichern fürchte, vor lauter Angst nicht mitbekomme. Mein Vater sagt, dass er selbst knapp bei Kasse ist. »Ich kann Ihnen eine Zigarette drehen, wenn Ihnen das was nützt«, sagt er,und er schüttet behutsam Tabak auf ein hauchdünnes Blättchen, leckt es an, klebt es zu und gibt es dem Landstreicher, der es nimmt und weitergeht. Mein Vater dreht auch für sich eine Zigarette und raucht sie.
Er erzählt mir, wie die Großen Seen entstanden sind. Überall, wo jetzt der Huron-See ist, sagt er, war früher flaches Land, eine weite, flache Ebene. Dann kam das Eis, kroch aus dem Norden herunter und schob sich
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