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Die Welt von Gestern

Die Welt von Gestern

Titel: Die Welt von Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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lange über den internationalen Sozialistenkongreß, der für den Sommer nach Wien einberufen war, aber auch hier empfand Rolland skeptischer als die andern. »Wie viele standhalten werden, wenn einmal die Mobilisierungsordres angeklebt sind, wer weiß es? Wir sind in eine Zeit der Massenempfindungen, der Massenhysterien geraten, deren Gewalt im Kriegsfall noch gar nicht abzusehen ist.«
    Aber, ich sagte es schon, solche Augenblicke der Sorge flogen vorbei wie Spinnweb im Winde. Wir dachten zwar ab und zu an den Krieg, aber nicht viel anders, als man gelegentlich an den Tod denkt – an etwas Mögliches, aber wahrscheinlich doch Fernes. Und Paris war zu schön in jenen Tagen und wir selbst zu jung und zu glücklich. Ich erinnere mich noch an die bezaubernde Farce, die Jules Romains ersann, um zur Verhöhnung des ›prince de poètes‹ einen ›prince des penseurs‹ zu krönen, einen braven, etwas einfältigen Mann, der sich von den Studenten feierlich vor die Rodinstatue vor dem Pantheon führen ließ. Und abends tobten wir bei dem parodistischen Bankett übermütig wie Schuljungen. Die Bäume blühten, die Luft ging süß und leicht; wer wollte angesichts so vieler Entzückungen an etwas so Unvorstellbares denken? Die Freunde waren mehr Freunde als je und neue dazu gewonnen im fremden – im ›feindlichen‹ – Land, die Stadt war sorgloser als je zuvor, und man liebte mit seiner eigenen Sorglosigkeit die ihre. Ich begleitete Verhaeren in diesen letzten Tagen nach Rouen, wo er eine Vorlesung halten sollte. Wir standen nachts vor der Kathedrale, deren Spitzen magisch im Mondschein erglänzten – gehörten solche linde Wunder noch einem ›Vaterland‹, gehörten sie nicht uns allen? Auf dem Bahnhof in Rouen, an der
selben Stelle, wo zwei Jahre später eine der von ihm besungenen Maschinen ihn zerreißen sollte, nahmen wir Abschied. Er umarmte mich. »Am ersten August bei mir in Caillou qui bique!« Ich versprach es, denn ich besuchte ihn doch jedes Jahr auf diesem seinem Landsitz, um Hand in Hand mit ihm seine neuen Verse zu übertragen. Warum nicht auch in diesem Jahr? Unbesorgt nahm ich Abschied von den andern Freunden, Abschied von Paris, lässigen, unsentimentalen Abschied, wie wenn man sein eigenes Haus für ein paar Wochen verläßt. Mein Plan für die nächsten Monate war klar. In Österreich jetzt, irgendwo auf dem Land, zurückgezogen die Arbeit an Dostojewskij (die fünf Jahre später erst erscheinen konnte) vorwärtsbringen und damit das Buch ›Drei Meister‹ vollenden, das je eine der großen Nationen in ihrem größten Romancier zeigen sollte. Dann zu Verhaeren und im Winter vielleicht die langgeplante Reise nach Rußland, um dort eine Gruppe für unsere geistige Verständigung zu formen. Alles lag eben und hell vor meinem Blick in diesem meinem zweiunddreißigsten Jahr; schön und sinnvoll wie eine köstliche Frucht bot sich in diesem strahlenden Sommer die Welt. Und ich liebte sie um ihrer Gegenwart und ihrer noch größeren Zukunft willen.
    Da, am 28. Juni 1914, fiel jener Schuß in Sarajewo, der die Welt der Sicherheit und der schöpferischen Vernunft, in der wir erzogen, erwachsen und beheimatet waren, in einer einzigen Sekunde wie ein hohles tönernes Gefäß in tausend Stücke schlug.

DIE ERSTEN STUNDEN DES KRIEGES VON 1914
    Jener Sommer 1914 wäre auch ohne das Verhängnis, das er über die europäische Erde brachte, uns unvergeßlich geblieben. Denn selten habe ich einen erlebt, der üppiger, schöner, und fast möchte ich sagen, sommerlicher gewesen. Seidenblau der Himmel durch Tage und Tage, weich und schwül die Luft, duftig und warm die Wiesen, dunkel und füllig die Wälder mit ihrem jungen Grün; heute noch, wenn ich das Wort Sommer ausspreche, muß ich unwillkürlich an jene strahlenden Julitage denken, die ich damals in Baden bei Wien verbrachte. Ich hatte mich zurückgezogen, um in diesem kleinen romantischen Städtchen das Beethoven sich so gerne zum Sommeraufenthalt wählte, diesen Monat ganz konzentriert der Arbeit zu widmen und dann den Rest des Sommers bei Verhaeren, dem verehrten Freunde, in seinem kleinen Landhaus in Belgien zu verbringen. In Baden ist es nicht nötig, das kleine Städtchen zu verlassen, um der Landschaft sich zu erfreuen. Der schöne, hügelige Wald dringt unmerklich zwischen die niederen biedermeierischen Häuser, die die Einfachheit und Anmut der Beethovenschen Zeit bewahrt haben. Man sitzt in Cafés und Restaurants überall im Freien, kann sich je

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