Die Welt von Gestern
einer ›unmoralischen Person‹, zu einem Outcast der Familie –, so war man doch immerhin genötigt, bei einem jungen Mann das Vorhandensein solcher Triebe zuzugeben. Da man mannbar gewordene junge Leute erfahrungsgemäß nicht hindern konnte, ihre vita sexualis auszuüben, beschränkte man sich auf den bescheidenen Wunsch, sie sollten ihre unwürdigen Vergnügungen extra muros der geheiligten Sitte erledigen. Wie die Städte unter den sauber gekehrten Straßen mit ihren schönen Luxusgeschäften und eleganten Promenaden unterirdische Kanalanlagen verbergen, in denen der Schmutz der Kloaken abgeleitet wird,
sollte das ganze sexuelle Leben der Jugend sich unsichtbar unter der moralischen Oberfläche der ›Gesellschaft‹ abspielen. Welchen Gefahren der junge Mensch sich dabei aussetzte und in welche Sphären er geriet, war gleichgültig, und Schule wie Familie verabsäumten ängstlich, den jungen Mann in dieser Hinsicht aufzuklären. Hie und da nur gab es in den letzten Jahren gewisse vorsorgliche oder, wie man damals sagte, ›aufgeklärt denkende‹ Väter, welche, sobald ihr Sohn die ersten Zeichen sprossenden Bartwuchses trug, ihm auf den richtigen Weg helfen wollten. Dann wurde der Hausarzt gerufen, der gelegentlich den jungen Menschen in ein Zimmer bat, umständlich seine Brille putzte, ehe er einen Vortrag über die Gefährlichkeit der Geschlechtskrankheiten begann und dem jungen Mann, der gewöhnlich zu diesem Zeitpunkte längst sich selbst belehrt hatte, nahelegte, mäßig zu sein und bestimmte Vorsichtsmaßregeln nicht außer acht zu lassen. Andere Väter wandten ein noch sonderbareres Mittel an; sie engagierten für das Haus ein hübsches Dienstmädchen, dem die Aufgabe zufiel, den jungen Burschen praktisch zu belehren. Denn es schien ihnen besser, daß der junge Mensch diese lästige Sache unter ihrem eigenen Dache abtäte, wodurch nach außen hin das Dekorum gewahrt blieb und außerdem die Gefahr ausgeschaltet, daß er irgendeiner ›raffinierten Person‹ in die Hände fallen könnte. Eine Methode der Aufklärung blieb aber in allen Instanzen und Formen entschlossen verpönt: die öffentliche und aufrichtige.
Welche Möglichkeiten ergaben sich nun für einen jungen Menschen der bürgerlichen Welt? In allen anderen, in den sogenannten unteren Ständen war das Problem kein Problem. Auf dem Lande schlief der Knecht schon mit siebzehn Jahren mit einer Magd, und wenn das Verhältnis Folgen zeigte, so hatte das weiter keinen Belang; in den meisten unserer Alpendör
fer überstieg die Zahl der unehelichen Kinder weitaus die der ehelichen. Im Proletariat wieder lebte der Arbeiter, ehe er heiraten konnte, mit einer Arbeiterin zusammen in ›wilder Ehe‹. Bei den orthodoxen Juden Galiziens wurde dem Siebzehnjährigen, also dem kaum mannbaren Jüngling, die Braut zugeführt, und mit vierzig Jahren konnte er bereits Großvater sein. Nur in unserer bürgerlichen Gesellschaft war das eigentliche Gegenmittel, die frühe Ehe, verpönt, weil kein Familienvater seine Tochter einem zweiundzwanzigjährigen oder zwanzigjährigen jungen Menschen anvertraut hätte, denn man hielt einen so ›jungen‹ Mann noch nicht für reif genug. Auch hier enthüllte sich wieder eine innere Unaufrichtigkeit, denn der bürgerliche Kalender stimmte keineswegs mit dem der Natur überein. Während für die Natur mit sechzehn oder siebzehn, wurde für die Gesellschaft ein junger Mann erst mannbar, wenn er sich eine ›soziale Position‹ geschaffen hatte, also kaum vor dem fünfundzwanzigsten oder sechsundzwanzigsten Jahr. So entstand ein künstliches Intervall von sechs, acht oder zehn Jahren zwischen der wirklichen Mannbarkeit und jener der Gesellschaft, innerhalb dessen sich der junge Mann um seine ›Gelegenheiten‹ oder ›Abenteuer‹ selber zu bekümmern hatte.
Dafür gab die damalige Zeit ihm nicht allzu viele Möglichkeiten. Nur ganz wenige, besonders reiche junge Leute konnten sich den Luxus leisten, eine Mätresse ›auszuhalten‹, das heißt, ihr eine Wohnung zu nehmen und für ihren Lebensunterhalt aufzukommen. Ebenso erfüllte sich einigen besonders Glücklichen das damalige literarische Liebesideal – das einzige, das in Romanen geschildert werden durfte –, das Verhältnis mit einer verheirateten Frau. Die andern halfen sich meist mit Ladenmädchen und Kellnerinnen aus, was wenig innere Befriedigung bot. Denn in jener Zeit vor der Emanzipation der Frau und ihrer tätigen selbständigen Teilnahme am öffent
lichen
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