Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Welt von Gestern

Die Welt von Gestern

Titel: Die Welt von Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
Vom Netzwerk:
Unsittliche zu denken. Da sie ununterbrochen forschte, was unpassend sein könnte, befand sie sich in einem unablässigen Zustand des Aufpassens; immer schien der damaligen Welt der ›Anstand‹ in tödlicher Gefahr: bei jeder Geste, bei jedem Wort. Vielleicht wird man heute noch verstehen, daß es in jener Zeit als Verbrechen gegolten, wenn eine Frau bei Sport oder Spiel eine Hose angelegt hätte. Aber wie die hysterische Prüderie begreiflich machen, daß eine Dame das Wort ›Hose‹ damals überhaupt nicht über die Lippen bringen durfte? Sie mußte, wenn
sie schon der Existenz eines so sinnengefährlichen Objekts wie einer Männerhose überhaupt Erwähnung tat, dafür das unschuldige ›Beinkleid‹ oder die eigens erfundene ausweichende Bezeichnung ›Die Unaussprechlichen‹ wählen. Daß etwa ein paar junge Leute gleichen Standes, aber verschiedenen Geschlechtes, unbewacht einen Ausflug hätten unternehmen dürfen, war völlig undenkbar – oder vielmehr, der erste Gedanke war, es könnte dabei etwas ›passieren‹. Ein solches Zusammensein wurde höchstens zulässig, wenn irgendwelche Aufsichtspersonen, Mütter oder Gouvernanten, die jungen Leute Schritt für Schritt begleiteten. Daß junge Mädchen auch im heißesten Sommer Tennis in fußfreien Kleidern oder gar mit nackten Armen spielten, hätte als skandalös gegolten, und wenn eine wohlgesittete Frau in Gesellschaft die Füße überschlug, empfand die ›Sitte‹ dies als grauenhaft anstößig, weil dadurch ihre Knöchel unter dem Kleidersaum hätten entblößt werden können. Selbst den Elementen der Natur, selbst Sonne, Wasser und Luft, war es nicht gegönnt, die nackte Haut einer Frau zu berühren. Im freien Meer quälten sie sich mühsam vorwärts in schweren Kostümen, bekleidet vom Hals bis zur Ferse, in den Pensionaten und Klöstern mußten die jungen Mädchen, um zu vergessen, daß sie einen Körper besaßen, sogar ihr häusliches Bad in langen, weißen Hemden nehmen. Es ist durchaus keine Legende oder Übertreibung, daß Frauen als alte Damen starben, von deren Körper außer dem Geburtshelfer, dem Gatten und Leichenwäscher niemand auch nur die Schulterlinie oder das Knie gesehen. All das erscheint heute nach vierzig Jahren als Märchen oder humoristische Übertreibung. Aber diese Angst vor allem Körperlichen und Natürlichen war tatsächlich von den obersten Ständen bis tief in das ganze Volk mit der Vehemenz einer wirklichen Neurose eingedrungen. Denn kann man es sich heute noch vorstellen, daß um die Jahrhundert
wende, als die ersten Frauen sich auf das Fahrrad oder gar beim Reiten in den Herrensitz wagten, die Bauern mit Steinen auf die Verwegenen warfen? Daß in einer Zeit, da ich noch zur Schule ging, die Wiener Zeitungen spaltenlange Diskussionen führten über die vorgeschlagene, grauenhaft unsittliche Neuerung, die Ballerinen der Hofoper sollten ohne Trikotstrümpfe tanzen? Daß es eine Sensation ohnegleichen wurde, als Isadora Duncan in ihren doch höchst klassischen Tänzen zum erstenmal unter der weißen, glücklicherweise tief hinab wallenden Tunika statt der üblichen Seidenschühchen ihre nackten Sohlen zeigte? Und nun denke man sich junge Menschen, die in einer solchen Zeit wachen Blicks heranwuchsen, und wie lächerlich ihnen diese Ängste um den ewig bedrohten Anstand erscheinen mußten, sobald sie einmal erkannt hatten, daß das sittliche Mäntelchen, das man geheimnisvoll um diese Dinge hängen wollte, doch höchst fadenscheinig und voller Risse und Löcher war. Schließlich ließ es sich doch nicht vermeiden, daß einer von den fünfzig Gymnasiasten seinen Professor in einer jener dunklen Gassen traf, oder man im Familienkreise erlauschte, dieser oder jener, der vor uns besonders hochachtbar tat, habe verschiedene Sündenfälle auf dem Kerbholz. In Wirklichkeit steigerte und verschwülte nichts unsere Neugier dermaßen wie jene ungeschickte Technik des Verbergens; und da man dem Natürlichen nicht frei und offen seinen Lauf lassen wollte, schuf sich die Neugier in einer Großstadt ihre unterirdischen und meist nicht sehr sauberen Abflüsse. In allen Ständen spürte man durch diese Unterdrückung bei der Jugend eine unterirdische Überreizung, die sich in kindischer und hilfloser Art auswirkte. Kaum fand sich ein Zaun oder ein verschwiegenes Gelaß, das nicht mit unanständigen Worten und Zeichnungen beschmiert war, kaum ein Schwimmbad, in dem die Holzwände zum Damenbad nicht von soge
nannten Astlochguckern durchbohrt

Weitere Kostenlose Bücher