Die Wiederkehrer
den restlichen Fingern über den Scheitel. Dabei blickte er ratlos suchend erst nach rechts, dann nach links, spähte in die Ferne, als erwarte er Verstärkung.
„Ich bin auf dem Weg zu meiner krebskranken, im Sterben liegenden Mutter“, erklärte Niko artig und fühlte sich ein bisschen wie Rotkäppchen, das im Wald auf den bösen Wolf gestoßen war. Nikos Vorhaben fühlte sich mit einem Mal abstrakt an, beinahe so, als hätte er das alles nur geträumt. Vielleicht war das, was er für sein Leben gehalten hatte, bloß ein Albtraum gewesen und nun war er aufgewacht und fand sich in seinem
echten
Leben wieder. Allein, ihm fehlte jede Erinnerung daran.
„Meeeeh“, blökte der Bulle und rümpfte dabei die Nase, als lehne er eine übelriechende Speise ab.
„Entschuldigung?“ Niko war empört.
„Nä, das ist nicht gut, das ist
gar nicht
gut“, murmelte Harry kopfschüttelnd.
„
Was
ist nicht gut?“, fragte Niko nach. Der Bulle stülpte die Kappe wieder über den Kopf, zwirbelte den Schnauzbart und meinte:
„Deine Story. Ganz mies, ganz mies.“ Der Hüne schüttelte seufzend den Kopf.
„
Story?
Das ist mein
Leben!
Wovon
reden
Sie überhaupt?“, fuhr Niko den Cop an. Das gab's doch wohl nicht!
„Zu wenig Sex-Appeal“, meinte Harry und stierte nachdenklich über Niko hinweg in die Ferne. Er seufzte tief und murmelte vor sich hin: „Das muss anders werden,
ganz
anders.“
„Okay.“ Niko tastete nach der Autotür. „Ich steige jetzt ein und fahre einfach mal weiter.“
Ohne Niko Beachtung zu schenken, pulte der Bulle den Schlagstock aus dem Gürtel und legte ihn warnend auf das Autodach. Er stützte die starken Arme links und rechts von Nikos Kopf ab und kam diesem so mit der breiten, gestählten Brust ziemlich nahe. Der Muskelprotz brummte drohend. Gulp. Niko schielte auf die Knöpfe und schluckte schwer.
Das
war deutlich. Niko beschloss, zunächst nichts zu tun und einfach abzuwarten. Eine andere Chance hatte er ohnedies nicht und außerdem war er ein Meister darin, auszuharren. Harry schien endlich zu einer Entscheidung gekommen zu sein. Er nickte Kaugummi kauend vor sich hin und formulierte immer wieder ein zähes:
„Yeah, Yeah! Das ist gut. Das ist gut.“ Der Cop sah zu Niko herab und dieser konnte sein verzerrtes Spiegelbild in der Pilotenbrille erkennen. Er wirkte darin wie ein Zwerg, winzig und hilfsbedürftig. Die Augen des Cops waren zwar nicht erkennbar, aber Niko fühlte sich von ihnen durchbohrt.
„Was ist gut?“, piepste Niko. Er hatte ein äußerst ungutes Gefühl und im Verhältnis zu dem, was er in den letzten Stunden durchmachen musste, hatte das etwas zu bedeuten.
„Kannst du schwul sein?“, fragte der Bulle und Niko prustete los.
„Was?“, stieß er belustigt hervor, aber die Frage des Hünen schien kein Scherz gewesen zu sein. Niko wurde unablässig fixiert. An Harrys Kiefer traten beeindruckende Sehnen hervor, während er weiterhin wiederkäute und offensichtlich auf eine Antwort wartete.
„N... nein ich glaub nicht“, stammelte Niko eingeschüchtert.
„Mmmh“, brummte der Cop und blickte erneut kauend und effektheischend männlich in die Ferne. Dabei zupfte er wie beiläufig Fotos aus der Brusttasche seines Hemdes und streckte sie Niko entgegen. Zögernd griff dieser danach und starrte geschockt auf die Motive.
„Scheiße!“, brabbelte Niko fassungslos und ihm sackten fast die Beine weg. Ihm wurde kotzübel. Auf den Fotos erkannte er sich selbst, beziehungsweise eine Vision davon. Er war entstellt, hatte einen weggetretenen, leeren Blick und überall kamen Schläuchen aus seinem Körper. Er schien darauf ein paar Jahre älter zu sein. Am Krankenbett saßen sein Vater, er hatte schlohweißes, zerzaustes Haar und eine etwas pummelige Frau, die halb so alt war wie er und die aussah, wie frisch vom Straßenstrich aufgesammelt. Ihre Speckröllchen wölbten sich durch ein hautenges Kleid mit Leopardenfellaufdruck. An Handgelenken, Hals und Fingern klimperte das Inventar eines Kaugummiautomaten aus den 80-Jahren – kiloweise billiger, kitschiger Plastikschmuck.
„Yeah!“, brummte der Bulle, als er Nikos erbleichtes Gesicht bemerkte. „Keine schöne Sache, was?“
„Was … ist … das? Woher … sind die … Fotos?“, stammelte Niko erschüttert. Es war wie bei einem Unfall – er wollte zwar, aber er
konnte
einfach nicht wegstarren. Solche Bilder hatte er schon in manchen Dokus über Wachkoma-Patienten gesehen.
„Weißt du, Nikolaus,
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