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Die wir am meisten lieben - Roman

Die wir am meisten lieben - Roman

Titel: Die wir am meisten lieben - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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war dagegen, dass er auf ein Internat ging. Eines Abends im letzten Winter, nachdem er ins Bett gegangen war, hatte er gehört, wie sie mit ihren Eltern unten darüber gestritten hatte. Sie war selbst mit elf an einen düsteren Ort namens Elmhurst in Malvern Hills geschickt worden und hatte es so gehasst, dass sie dreimal ausgerissen war. Das letzte Mal etwa ein Jahr vor Tommys Geburt. Sie soll in einem Polizeiwagen nach Hause gebracht worden |23| sein. Wenn sie also wussten, wie schrecklich es war, warum würden seine Eltern ihm das antun wollen?
    Diane hielt niemals an sich, wenn es Streit gab; es dauerte nicht lange, und sie fing an zu schreien. Wenn es so weit war, stürmte ihre Mutter aus dem Zimmer, schlug die Tür hinter sich zu, während sein Vater sich die Pfeife in den Mund steckte, die Zeitung hochnahm und so tat, als ob er nichts hörte. Dieses Verhalten machte Diane noch wütender. Aus seinen gemurmelten Antworten auf ihre Attacken in jener Nacht konnte Tommy Satzfetzen heraushören wie
Tut dem Jungen gut, stählt ihn ein bisschen, macht einen Mann aus ihm
. Tommy hatte schon immer schnell erwachsen werden wollen, dennoch, acht schien ein wenig zu früh für das Mannesalter.
    Er hatte sich nie getraut, seinen Vater zu fragen, was alles damit verbunden war, aber seine Mutter hatte ihm versichert, dass Jungs aus angesehenen Familien nun einmal ein Internat besuchten. Er sollte sich glücklich schätzen, hatte sie gesagt, denn manche Kinder würden schon mit sechs weggeschickt. Zudem, hatte Tommy sie gegenüber Tante Vera sagen hören (und jedem, der zuzuhören bereit war), galt die Ashlawn Preparatory School für Jungen als eine der besten in Worcestershire. Auf die Liste der berühmten
Ehemaligen
gehörte einer, der für England Rugby gespielt hatte, einer hatte am Design des Mini Cooper mitgearbeitet, und einem Major war das Victoria Cross für seinen Einsatz im Krieg gegen die Japaner verliehen worden.
    »Was hat er gemacht?«
    »Habe ich vergessen, aber er war sehr tapfer.«
    »Tapferer als Dad?«
    »Natürlich. Der hat sich doch im Krieg nur anschießen lassen.«
    Sein Vater hatte gegen die Deutschen gekämpft und eine Kugel ins Bein bekommen. Darum hinkte er immer noch ein wenig. Er war sogar eine Weile Kriegsgefangener gewesen, aber leider |24| war er nicht ausgebrochen, wie sie es immer in Filmen taten. Tommy begeisterte sich für Tapferkeit genauso wie für Männlichkeit. Beides gehörte zusammen. All die Stunden, die er damit verbracht hatte, Western zu sehen, waren nicht umsonst gewesen. Neuerdings fragte er sich, wie Flint McCullough reagieren würde, wenn man ihn in ein Internat schickte. Keine Tränen, so viel war sicher. Das Kinn zur Brust ziehen. Ein männliches Nicken. Tommy versuchte es, aber das Knäuel in seinem Magen bewegte sich nicht.
    Der Kern des Problems, das alle – nun ja, seine Eltern und eine lange Reihe von Ärzten – versucht hatten zu lösen, solange er denken konnte, war die große Schande in ihrem Leben und wahrscheinlich auch der Grund, warum sie ihn nicht länger bei sich behalten wollten.
    Es passierte nicht jede Nacht. Er schaffte es zwei oder manchmal auch drei Nächte hintereinander, dann brach seine Mutter in Begeisterungsstürme aus.
    »Gut gemacht, Tommy. Das ist es! Du hast es geschafft! Guter Junge!«
    Dann, in der nächsten Nacht, als spielte ein boshafter Kobold in seinem Innern ihnen allen einen Streich, geschah es wieder: Er wachte in den frühen Morgenstunden auf – im Haus war es totenstill – und spürte zwischen seinen Beinen das vertraute warme Nass. Er lag einfach da, verfluchte und hasste sich und weinte leise vor Wut und Selbstmitleid.
    Keiner wusste mit Gewissheit, warum er ins Bett machte. Seine Mutter behauptete, es seien die Nachwehen einer schlimmen Mumpserkrankung im Alter von drei Jahren. Das, so sagte sie, hätte sein
Blasensystem
geschwächt. Ein Arzt, den Diane den Seelenklempner nannte, sagte, Tommy mache das absichtlich, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Er verschrieb ein Programm aus Zuckerbrot und Peitsche, das sie fast einen Monat lang befolgt hatten. Eine trockene Nacht, und Tommy durfte |25| eine halbe Stunde länger aufbleiben. Eine nasse, und er bekam Fernsehverbot oder kein Eis oder keine Schokolade. Bald war klar, das Programm hatte nur eines zur Folge: Allen wurde das Leben vermiest, und jeder war übelgelaunt. Und wie alle früheren Versuche wurde auch dieser sein gelassen, und sie suchten einen neuen Arzt auf und dann noch

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