Die Woll-Lust der Maria Dolors - Roman
intensiven Zungenkuss hat er dann aber zu mir gesagt, und jetzt blas damit die Flöte. Erst wusste ich nicht, was er wollte, bis er auf seinen Schwanz zeigte. Ich erstarrte und blaffte ihn an: He, ich bin keine Nutte! Aber er meinte, das würden jetzt alle Mädchen tun, und wenn ich es ihm nicht so besorgte, dann würde er sich halt eine andere suchen. Da habe ich natürlich nachgegeben, nicht dass er mich abserviert wie Jaume.
Offen gestanden ist es ein bisschen eklig, wenn auch nicht so schlecht, obwohl ich das nie einer Freundin erzählen würde, weil ich mich ganz schön dafür schäme. Das erzähle ich nur dir, Oma, weil du tot bist. Richtig toll hingegen finde ich ja so etwas Romantisches, etwa wenn er mich auf der Straße in den Arm nimmt und mir vor allen anderen einen Kuss gibt. Ich finde es toll, dass er mir gehört und niemandem sonst, dass er mich liebt. Und ich mag den Gedanken, dass ich ihn heirate und wir dann eine große Wohnung und Kinder haben. Ich hoffe, dass er mich nicht sitzenlässt, wenn er erfährt, was auf ihn zukommt.Natürlich wird er nicht begeistert sein, wenn ich irgendwann dann Schauspielerin werde, und das ärgert mich ein bisschen. Aber gerade steht das ja eh nicht zur Debatte, im Leben kann man nicht alles haben, und im Moment gibt es Wichtigeres.
Auf jeden Fall gebe ich weiter auf meinen Körper acht, auch wenn mir das immer schwerer fällt. Meine Eltern und Martí passen zudem auf wie ein Luchs, dass ich genug esse und es hinterher nicht wieder auskotze. Wenn es mir dann doch hochkommt, werden sie ganz böse. Aber ich kann nicht anders, Oma, mir wird einfach schlecht, und ich spucke dann eben alles aus.
Wie Martí mich ansieht, ist schwer zu ertragen. Schade, dass er schwul und mein Bruder ist, sonst würde ich ihn auf der Stelle heiraten, er ist der netteste junge Mann der Welt. Er traut mir jedenfalls nicht über den Weg. Er liebt mich sehr und ich ihn, aber was mit mir gerade passiert, ist ganz allein meine Sache. Wenn er bloß endlich von zu Hause ausziehen würde, damit er mich nicht länger so ansieht. Aber gestern, als ich aus der Klinik kam, hat er einen Rückzieher gemacht. Na ja, vielleicht hat er sich ja mit seinem Freund verkracht.
Aber egal, irgendwann demnächst werde ich ihnen allen die Wahrheit sagen müssen.
Übrigens, Oma, vielen Dank für den Pullover. Dass du ihn für mich in den letzten Wochen deines Lebens gestrickt hast, hat mich echt umgehauen. Ehrlich. Ich hätte nicht gedacht, dass du mich so lieb gehabt hast und wolltest, dass ich es immer schön kuschelig habe. Heute kommt er mir wirklich sehr gelegen, weil ich so vor aller Welt meinen Körper verstecken kann, denn an ihren Blicken merke ich,dass sie mich immer noch für zu dünn halten. So erspare ich mir die Kommentare und die guten Ratschläge meiner Familie und deiner Freunde und Bekannten, diese blöden Sprüche, du bist spindeldürr, Kind, isst du auch wirklich? Was haben die bloß alle für einen Tick deswegen.
Der Pullover ist einfach unheimlich schön, du hattest einen sehr guten Geschmack, Oma, ich liebe diese leuchtenden Farben. Der Rollkragen ist allerdings ein bisschen eng. Und er ist mir insgesamt auch ein bisschen zu weit. Unter normalen Umständen werde ich ihn wohl kaum anziehen, denn so ein Wollpullover macht einen ja noch dicker, als man eh schon ist. Aber keine Panik: In ein paar Monaten wird er genau passen, wenn man mir erst einmal ansieht, dass ich …
Informationen zum Buch
Zwei rechts, zwei links und bloß keine fallen lassen. Still sitzt sie da und strickt emsig vor sich hin: Seit einem Schlaganfall lebt Dolors bei der Familie ihrer Tochter Leonor. Zwar kann sie nicht mehr sprechen, sie hat aber nach wie vor einen scharfen Verstand. Und blind und taub ist sie auch nicht geworden, wie das alle zu glauben scheinen – warum sonst behandelt man sie wie ein Möbelstück? Während die lebenskluge alte Frau für ihre 1 6-jährige Enkelin einen wundervollen Pullover in leuchtenden Farben strickt, entgeht ihr nichts von dem, was in dieser scheinbar ganz normalen Familie vorgeht. Jeder hütet hier ein Geheimnis. Nicht zuletzt Dolors selbst …
Informationen zur Autorin
Blanca Busquets,
1961 in Barcelona geboren, arbeitet seit 1986 als Fernseh- und Radiojournalistin für Televisió de Catalunya und Catalunya Ràdio, wo sie diverse Kulturprogramme moderiert. Nach mehreren preisgekrönten Erzählungen und ihrem Romandebüt ›Presó de Neu‹ (2003) hat sie mit ›Die
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