Die Wunderheilerin
ziehen können.
Margarete aber würde bei der Alten bleiben. «Sie braucht mich», hatte sie gesagt. Noch immer sprach sie nicht viel, nur das Nötigste, aber sie hatte die Sprache endlich wieder gefunden. Priska hatte geweint vor Glück über ihr erstes Wort. So wie damals, als Nora angefangen hatte zu sprechen. Auch dem Kind gefiel es in Zuckelhausen. Hier wurde gelacht. Hier gab es Feste, hier wurde gescherzt. Hier wollte sie bleiben.
Längst schon hatte Priska bemerkt, dass Nora unter der düsteren Stimmung zu Hause litt. «Warum ist Vater immer so traurig?», fragte sie eines Abends, als sie gemeinsam vor dem Kaminfeuer saßen.
«Es gibt Menschen, Nora, die sind nicht für das Glück gemacht», erklärte ihr Priska.
«Und ich? Bin ich für das Glück gemacht?», fragte das Kind.
«Aber ja. Du bist unter einem glücklichen Stern geboren. Du bist mit einem Lachen gemacht, bist ein Kind der Liebe.»
Sie strich ihrer Tochter über den Kopf, über die weichen dunklen Locken, die sie so sehr an Aron erinnerten, und las ihr eine Geschichte aus der Bibel vor. Nora war eine gelehrige Schülerin, ihr Wissensdurst war unstillbar. Auch im Laboratorium half sie Adam manchmal. Sie säuberte die Gefäße, mischte Salben, die Priska oder Adam angesetzt hatten, band Kräuter zu Sträußen und ließ sie trocknen.
Sogar mit Regina verstand sich das Kind. Die Magd war oft mürrisch, klagte über Schmerzen, ließ sich mehr bedienen, als dass sie diente. Aber Nora störte das alles nicht. Sie plauderte mit Regina, ließ sich von ihr erklären, wie man eine gute Suppe machte, und lauschte ihren Geschichten. Priska mochte die Geschichten nicht, die Regina der Kleinen erzählte. Immer ging es darin um eine Frau, die von allen anderen betrogen worden war und sich am Ende fürchterlich rächte. Auch deshalb las sie Nora die Geschichten aus dem Neuen Testament vor. Heute Abend fragte sie: «Gefallen dir diese Geschichten?»
Nora nickte. «Ja. Sehr. Am liebsten habe ich die Geschichte, in der das Jesuskind geboren wird.»
«Dieses Buch», fuhr Priska fort, «ist ein ganz besonderes Buch. Nicht nur, weil das Wort des Herrn Jesus darin steht. In diesem Buch steht die Wahrheit. Weißt du, es gibt aber Menschen, die fürchten sich vor der Wahrheit.»
«Wieso? Ich habe keine Angst vor der Wahrheit.»
Priska lächelte und streichelte dem Kind die glühendenWangen. «Doch, mein Schatz, auch du hast manchmal Angst vor der Wahrheit. Erst neulich hast du die Milch umgestoßen, erinnerst du dich?»
Nora nickte und senkte schuldbewusst den Kopf. Priska sprach weiter: «Du hast mir erzählt, die Katze hätte den Milchtopf umgestoßen, aber du hast mir dabei nicht in die Augen sehen können. Danach hattest du sicher Angst, dass die Wahrheit ans Licht käme, nicht wahr?»
Wieder nickte Nora, hielt den Kopf noch immer gesenkt.
«Wer hat in dem Buch die Milch umgestoßen?», fragte sie leise.
Priska lächelte. «Niemand. Es geht nicht um Milch. Es geht um Gott. Und um Jesus Christus. In dem Buch steht, dass du allein mit Gott sprechen darfst, wenn du das möchtest. Du musst nicht in die Kirche gehen und mit einem Priester sprechen, wenn du etwas von Gott möchtest. Ganz allein darfst du mit ihm reden, als wäre er dein Freund. Das ist die Wahrheit, die darin steht.»
«Warum hat Regina Angst davor?», fragte Nora und sah Priska verständnislos an.
«Weil Regina und viele andere Leute glauben, was die Priester sagen. Sie sagen nämlich, dass nicht jeder mit Gott sprechen darf wie mit einem Freund. Sie sagen, dass nur sie das dürfen. Die Leute sollen zu ihnen kommen und mit ihnen sprechen, und dann würden sie deren Sorgen und Fragen an Gott weiterleiten.»
«Und die Priester haben Unrecht?»
Priska nickte. «Ja, in diesem Falle schon. Die Menschen brauchen die Geistlichen, um von ihnen Trost und Rat zu empfangen, um gemeinsam den Gottesdienst feiern zukönnen, nicht aber, um mit Gott zu sprechen. Verstehst du das?»
Nora nickte, aber Priska wusste, dass Nora nichts verstand. Sie hatte ihr immer alles erklärt, hatte nie gesagt: Das verstehst du noch nicht, dafür bist du zu klein. Wie aber sollte sie ihr klar machen, dass dieses Buch der Wahrheit in Leipzig ein verbotenes Buch war und dass Regina nur darauf lauerte, etwas zu finden, das dem Haus Schaden bringen könnte?
«Du versprichst mir also, nichts zu sagen?», vergewisserte sie sich.
Nora nickte wieder. «Wenn Regina aber keine Angst mehr vor der Wahrheit hat und selbst mit Gott
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