Die Zan-Spieler
Protagonistenmannschaft gespielt; auf jeden Fall hatte sie dadurch eine Beschäftigung.
Auch versuchte sie sich mit dem Drama, indem sie Geschichten erfand oder sich solche, die sie schon einmal gehört hatte, wieder ins Gedächtnis rief. Dies war eine noch größere Herausforderung, da die Ler die Stücke nicht auf der Bühne aufführten, sondern sie entweder lasen oder einem Geschichtenerzähler lauschten – das Erzählen von Geschichten galt bei den Ler als Teil guter Umgangsformen. Sie gab zu, daß es ihr, was das Erzählen betraf, an Fähigkeit mangelte, aber sie hatte immer gut zugehört, und jetzt tat ihr diese Gewohnheit zunächst einen guten Dienst. Die Ler bevorzugten die Tragödie, borgten ungehemmt von menschlichen Quellen und boten sie dar, so wie sie waren oder änderten die Namen sämtlicher Charaktere in Ler-Namen um und fuhren von da aus fort; auch erfanden sie nach einer komplizierten Menge von Regeln, die das Erzählen von Geschichten betrafen, eigene Dramen, und diese konnten in verschiedenen kulturellen Milieus spielen. So erfand und erinnerte sie sich also und vervollkommnete ihre Fähigkeiten der Visualisierung. Sie erinnerte sich an große Dramen, bei denen offen zugegeben wurde, daß ihre Wurzeln bei den Vorläufern lagen: Irephetas und Casilda, im wesentlichen eine Geschichte der Wollust, die durch strenge gesellschaftliche Konventionen unterdrückt wird. Sie mochte dieses Stück, denn es erinnerte sie entfernt an eine Situation, die irgendwie auf sie selbst paßte. Sie erinnerte sich auch an Thurso mit seiner violettäugigen Antagonistin, die jedem Ler-Publikum regelmäßig vor Entsetzen den Atem verschlug; Ler-Augen waren ausnahmslos zart getönt, starke Farben sah man fast nie, und wenn, dann deuteten solche Merkmale auf eine Willenskraft hin, die nicht ohne tragische Folgen für alle im Umkreis ihres Besitzers sein konnte. Tamar Cauldwell und Die Frauen von Point Sur gefielen ihr wegen ihrer gewollten Komplikationen und atemberaubenden Gefühlsaufwallungen. Es gab da eine berühmte Ler-Version von Tamar, die in den Einzelheiten etwas verändert worden war und Tamvardir, der Innenverwandte hieß, welche in mancher Hinsicht besser als das Original war.
Sie ging von realistischen, wenn auch hochemotionalen Tragödien zu mehr phantastischen Dramen über, zu Ericord dem Großen, der schaurigen Belagerung von Kark und dem schrecklich-schönen Tyrannen von Shent. Und dann die reinen Ler-Dramen, von denen einige Bearbeitungen von menschlichen Legenden und Erzählungen waren: Die Rache des Hifzer Vlandimlar, Hunsimber, der Brutale, Schaf Meth Vor, vielleicht besser als Wissenschaft und Revolution bekannt, und Damvidhlan, Baethshevban und Hurthayyan, wobei sie bei letzterem einen leichten Schauder spürte, da sie nun dazu neigte, sich selbst mit dem Opfer Hurthayyan zu identifizieren.
Als eine der Ler besaß sie ein fast totales Gedächtnis; daher konnte sie auch angenehme Erfahrungen, Augenblicke, die in ihrem vergangenen Leben besonders schön gewesen waren, nach Belieben noch einmal zurückrufen. Sie konnte auch Wachträume, Szenen mit sich selbst, die sie sich vorstellte und die sie sich wünschte, in die Zukunft oder Vergangenheit projizieren. Mit dem Gedächtnis konnte sie sich weit zurückerinnern, praktisch bis ins Säuglingsalter zurück, aber dahinter lag eine Region, die sie fürchtete, in der sich die ruhig kreisenden Linien der Erinnerung ineinander verstrickten und undeutlich wurden, und weiter hinten knoteten sie sich zusammen, und noch etwas weiter hinten verschwammen sie. Der Säugling erinnerte sich nicht an den Mutterleib, weil er ihn nicht bewußt erlebt hatte. Jetzt, hier, an diesem dunklen Ort diesem Kasten, diesem Apparat zur Reduzierung der sinnlichen Wahrnehmung – waren die Linien der Zeit abermals undeutlich und verschwommen, und sie spürte, daß ihr ein zweiter Leib auferlegt worden war. Die Linien waren vage. Sie schlief. Sie träumte.
Wie für alle anderen Ler war für sie die Erinnerung immer eine Quelle der Kraft gewesen, eine enge Freundin, eine Bezugsmöglichkeit. Sie wußte, daß, je höher eine Kreatur die Leiter der Evolution emporgeklettert war, um so stärker das Zeitbewußtsein wurde. Die Leute, und zwar sowohl die natürlichen Menschen als auch die durch Einwirkung von außen entstandenen Ler, hatten einen gewaltigen Schritt in diese Richtung bedeutet. Doch hier und da in der unermeßlichen und unergründlichen Zeit des Kastens begann ihre Erinnerung
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