Die Zarentochter
die Stirn. War das nicht Onkel Dimitri?
Sascha biss die Zähne aufeinander. Seine Wangen hoben und senkten sich dabei wie die eines Hundes, der auf einem Knochen kaut. Bestimmt hat auch er die Stimme von Onkel Dimitri erkannt, dachte Olly.
Der Bruder war ein glühender Bewunderer von Papas Freund – jedes Mal, wenn der Stabshauptmann der Leibgarde des Moskauer Regiments hier in St. Petersburg weilte, heftete sich Sascha an seine Fersen. Wenn er groß wäre, wolle er auch ein Regiment führen, erklärte er den Schwestern dann großspurig. Weder die dreijährige Olly noch Mary mit ihren sechs Jahren interessierten sich für Saschas Pläne, aber den Onkel mochten sie ebenfalls, denn immer brachte er ihnen eine Kleinigkeit mit. Das letzte Mal waren es Silberkugeln gewesen, in denen kleine Glöckchen verborgen waren. Als sie lautstark gewetteifert hatten, wer die Kugeln am weitesten rollen konnte, hatte Onkel Dimitri gelacht und gemeint, die Roma now-Kinderwürden sich auch nicht besser benehmen als gewöhnliche Straßengören.
Doch jetzt baute sich Dimitri vor ihrem Vater auf und schrie: »Die Zeit ist reif für eine Revolution, das Volk ruft nach Demokratie und Freiheit!«
»Ein Aufstand? Und du mittendrin, mein lieber Dimitri? Alles hätte ich von dir gedacht, nur das nicht … Hier, auf meiner Seite müsstest du stehen!« Papas Stimme war eiskalt, so kalt, dass Olly ein Schauer über den Rücken lief.
Die Schwerter funkelten noch immer. Sascha hatte einmal gesagt, man könne damit einen Menschen ermorden.
»Ihr wollt Freiheit und Demokratie? Dann stich zu, mein lieber Freund. Hier, mitten in mein Herz. Aber bedenke, dass du damit auch das Herz Russlands triffst. Denn meine Herrschaft ist von Gott gewollt, daran werdet auch ihr nichts ändern. Euren revolutionären Umtrieben werde ich den Garaus machen, und wenn’s das Letzte ist, was ich tue.«
»Nikolaus … Zwing mich nicht, zum Äußersten zu gehen. Wir fordern nicht deinen Tod, nur deine Abdankung und –«
»Stich zu! Los! Sei nicht auch noch ein Feigling, wenn du schon ein Dummkopf bist, Dimitri!«
Die Stimmen verschwammen für Olly zu einem wilden Surren, als wäre ein Bienenstock aufgeflogen. Im nächsten Moment wurde es um ihre Beine herum tröstlich warm.
Die Stiefel trampelten, die Männer schrien. Warm rann es ihre Schenkel hinab.
»Dimitri, Fürst Sergei Petrowitsch Trubetzkoi, Sergei Grigorjewitsch Wolkonski, Pawel Iwanowitsch – alle standen sie hier und verweigerten mir den Gehorsam … Gute Männer. Zumindest habe ich das bis zum heutigen Tag geglaubt.« Müde saß ihr Vater hinter seinem Schreibtisch, während die Mutter seinen Nacken massierte, so wie er es gern hatte.
»Dass etwas in der Luft lag, habe ich schon heute Mittag bei meiner Fahrt durch die Stadt gespürt. Simonow hatte mich außerdem davonin Kenntnis gesetzt, dass sich auf dem Senatsplatz ein paar wild gewordene Matrosen und Soldaten zusammenrotten würden. Aber dass auch viele meiner Generäle und Offiziere darunter sind – davon hat er nichts gesagt. Nie hätte ich gedacht, dass die Männer es tatsächlich wagen würden, mich hier im Palast –« Mit einem Seitenblick auf die Kinder brach er ab. »Wenn Simonow und seine Gefolgschaft nicht gekommen wären, nicht auszudenken!«
Die Geschwister duckten sich – jetzt bloß nicht auffallen und weggeschickt werden. Mit gekreuzten Beinen machte Olly noch einen Schritt zurück. Inzwischen war es ihr um ihre Beine nicht mehr wohlig warm, sondern nass und eklig. Wie ein Säugling hatte sie sich in die Hose gemacht …
»Ausgerechnet Dimitri … Der Mann stand mir nahe wie ein Bruder.« Einen Moment lang klang die Stimme ihres Vaters tränenerstickt.
»Dem Himmel sei Dank hast du ihn und alle anderen zur Räson bringen können. Wenn ich gewusst hätte, was hier los ist, während ich mir in der Eremitage Ölgemälde für meinen Salon aussuche – tausend Tode wäre ich gestorben!«
Beim Anblick seiner Frau, die nun ebenfalls den Tränen nahe war, richtete sich Nikolaus wieder auf. Besänftigend tätschelte er ihre Hand. »Umso besser, dass du nichts wusstest. Aufregung tut in deinem Zustand nicht not …«
Mit Erleichterung sah Olly, dass sich das Gesicht ihrer Mutter wieder erhellte.
»Jetzt, wo du tatsächlich Russlands Kaiser wirst, kommt unser nächstes Kind purpurfarben gewandet zur Welt …« Fast andächtig hielt sie ihren dicken Bauch.
»Aber meine Liebste, wir wollen doch den Namen unserer Vorväter verwenden!
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