Die Zarin der Nacht
keinen Wunsch abschlägt.
»Und du wirst sterben«, antwortet Sophie. In ihrer Stimme ist kein Zögern, kein Zweifel zu hören. »So wie Augusta«, fügt sie hinzu, bevor er sich die Ohren zuhalten kann. Ihre kleine Schwester ist nur zehn Tage am Leben geblieben, und die Erde über ihrem kleinen Sarg hat sich noch nicht gesetzt.
»Maman!«, schreit Wilhelm, »Sophie macht mir schon wieder Angst!«
Dieser Schwächling.
Auf der Treppe sind Mamans Schritte zu hören.
Sophie fürchtet sich nicht vor ihrem Zorn. Sie lässt sich nicht einschüchtern. »Du wirst sterben, Wilhelm«, sagt sie noch einmal, jetzt ohne Ton, aber so, dass er es von ihren Lippen lesen kann. Sie wiederholt es immer wieder, bis Mamans Hand zuschlägt, so hart, dass ihre Lippe aufplatzt. Das Blut schmeckt salzig und süÃ.
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Ich bin zusammen mit Maman nach Russland gekommen. Damals nannte man mich Sophie.
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Sie erinnert sich an die Reise: Unendlich weite schneebedeckte Felder, auf denen wenige Monate später, so versicherte man ihr, üppig Weizen, Hafer und Gerste sprieÃen würden. Dichte, dunkle Wälder, in denen Füchse und Nerze leben, die wunderbar weiche Pelze liefern. Städte und Dörfer, bunt angemalte Kirchen mit Zwiebelkuppeln, Glockengeläute. Bauernhäuschen mit geschnitzten Fensterstöcken und -läden. Die Nächte, die so früh hereinbrachen, zu einer Zeit, da es in Zerbst noch hell war.
Ihre FüÃe sind ganz geschwollen nach all den Stunden, die sie in der Kutsche sitzen musste, und tun ihr weh, wenn sie am Abend aussteigt. Es ist nicht so schlimm, dass sie nicht gehen könnte, gleichwohl befiehlt Maman, dass man Sophie in die
Herberge trägt, in der sie übernachten. Damit der katzbuckelnde Posthalter auch weiÃ, welch hohe Ehre seiner verräucherten Absteige zuteil wird, macht sie ihm gleich unmissverständlich klar, dass er es mit illustren Herrschaften zu tun hat: Die Fürstin von Zerbst mit Begleitung, persönlich eingeladen von Ihrer Majestät Elisabeth Petrowna. Die, wenn nicht ein jäher Tod es verhindert hätte, ihre Schwägerin geworden wäre.
Mamans Vorstellung wird jedes Mal von der deutschen Zofe mit heftigem und von den russischen Dienstboten mit höflichem Nicken begleitet. Die Wirkung auf die Leute bei den verschiedenen Poststationen ist schwer zu ermessen. Sie reden zu schnell, und das bisschen Russisch, das Sophie bis jetzt gelernt hat, nutzt ihr nichts.
Sie muss ganz neu anfangen.
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Da heiÃt ja.
Njet heiÃt nein.
Moschet byt heiÃt vielleicht.
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»Ist Sophie nicht bezaubernd, Peter?«, fragt Elisabeth. Ihre Wangen haben die Farbe von reifen Aprikosen vor freudiger Erregung. Oder ist es vielleicht doch nur eine Schicht Rouge?
Peter, ihr Vetter zweiten Grades und Kronprinz von Russland, hebt den Kopf. Seine leicht hervortretenden Augen huschen nervös zwischen ihr und seiner Tante hin und her.
Hier in Moskau wirkt Peter noch dünner als bei ihrer ersten Begegnung in Eutin. Geradezu ausgehungert, würde sie denken, wenn er nicht Thronerbe wäre.
Die Kälte der langen Winterreise steckt ihr noch in den Knochen. Die Nächte in eisigen Poststationen, wo Finger und Zehen taub wurden. Ihr Atem weiÃer Nebel. Weite Strecken über endlose weiÃe Felder, durch dichte Wälder, die in pulvrigen Schnee gehüllt waren. Immer die Angst, dass irgendein Unglück oder Unfall passieren und die Kutsche nicht mehr weiterfah
ren könnte, dass sie dem erbarmungslosen Winter ausgeliefert wäre und erfrieren müsste.
Was sieht Peter, wenn er sie anschaut? Ihren glatten weiÃen Teint? Ihre gesunden Zähne? Die knospenden Brüste in dem starren Korsett? Die nussbraunen Augen mit den blauen Pünktchen? Wo ist er mit seinen Gedanken? In Eutin, wo sie ihm versicherte, dass er ohne Zweifel sehr klug sei? Wo er ihr ins Ohr flüsterte: »Wenn sie mich zum König von Schweden machen, brenne ich mit den Zigeunern durch, und sie werden mich nie finden.«
»Gefällt dir Prinzessin Sophie, Peter?«
Um sie herum in dem ausgedehnten Palast in Moskau mit seinen knarzenden Holzböden und leeren Vorzimmern verstummt das Geflüster, die Höflinge halten den Atem an. Sie, nur eine Prinzessin von Anhalt-Zerbst, mustert den dünnen Hals ihres Cousins und sieht, wie seine Augenbrauen zucken.
Ein langer Moment vergeht, dann nickt Peter.
Es ist ein recht
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