Die Zarin der Nacht
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ERSTER TEIL
5. November 1796
9.00 Uhr
Der Schmerz ist stechend scharf, als bohrte sich die Spitze eines glühenden Dolchs irgendwo hinter ihrem rechten Auge in ihren Schädel. Er setzt in dem Moment ein, als sie die frisch eingetauchte Feder zückt, um den Brief zu unterschreiben, der vor ihr liegt. Ihre Hand erstarrt, die Feder fällt hinunter und macht einen Klecks auf dem Papier.
Die Kaminuhr schlägt. Die Kaiserin muss daran denken, mit welchem Schrecken sie als Kind einmal gesehen hat, wie jemand die Zeiger einer Uhr zurückstellte: Sie glaubte damals, die Zeit werde zurückgedreht, sie müsse nun die Vergangenheit noch einmal durchleben und werde um die aufregende Zukunft betrogen.
Der Schmerz hört nicht auf. Es ist schon neun Uhr, und sie muss noch etliche Papiere lesen, bevor ihr Sekretär kommt. Sie überlegt, ob sie den Diener rufen soll, verwirft aber den Gedanken gleich wieder. Der alte Sotow mit seinem besorgten Getue würde ihr nur zur Last fallen. Die Kopfschmerzen werden schon von selbst verschwinden.
Pani, ihr italienischer Windhund, schnüffelt konzentriert an ihrer Hand und leckt sie. Die Hündin stammt von der geliebten Semira ab, die in den Gärten von Zarskoje Selo begraben liegt, und ist ebenso schlank und feinknochig wie sie.
»Ich habe nichts für dich«, murmelt die Kaiserin. Sie will Pani den Kopf tätscheln, aber ihre rechte Hand ist seltsam steif wie Holz, und die Liebkosung gerät fahrig. In den Augenwin
keln des Hundes klebt etwas Eiter. Genau wie Semira neigt Pani zu hartnäckigen Bindehautentzündungen.
Durch die Tür des Arbeitszimmers sind schlurfende Schritte und gedämpfte Stimmen zu hören, die gleich wieder verstummen. Die Kaiserin arbeitet, sie darf nicht gestört werden.
Sie steht auf. Mit der linken Hand hält sie sich an der Schreibtischkante fest, so ungeschickt, dass sie ein paar Blätter fortwischt. Sonderbar, denkt sie und beobachtet die Papiere, die, von unsichtbaren Strömungen getragen, lautlos in der Luft schweben wie kleine Vögel. Auch Pani beobachtet sie, den Kopf leicht schief gelegt. Ihr wedelnder Schwanz klopft auf den Boden.
In der Tasse auf dem Schreibtisch ist noch etwas Kaffee. Er ist sicher längst kalt, aber es wird ihr guttun, etwas zu trinken. Ihre rechte Hand ist starr und bleischwer, darum nimmt sie die Tasse mit der linken. Der erste kleine Schluck von dem bitteren Gebräu schmeckt angenehm, aber dann nippt sie noch einmal, und plötzlich ist ihr, als müsste sie ersticken.
Sie spuckt den Kaffee aus, auf das glänzend polierte Holz, auf die Papiere. Statt die braunen Spritzer wegzuwischen, tastet sie mit der Zunge in ihrer Mundhöhle herum, fährt über die weichen Rippen ihres Gaumens. Wie Kalbshirn, denkt sie, Mamans Lieblingsgericht. Sie selbst hatte es immer verabscheut.
Sie will die Tasse wieder abstellen, aber ihre Hand gehorcht ihr nicht. Die Tasse fällt auf den Boden und zerspringt in Scherben.
Vielleicht sollte sie ein paar Schritte gehen, damit ihr wieder besser wird?
Auf wackeligen Beinen setzt sie sich in Bewegung. Unsicher tastet sie nach Halt. An der Schreibtischplatte, an der Lehne des Stuhls.
Hinter ihr ein polterndes Geräusch. Etwas Schweres ist hinuntergefallen.
Das rechte Knie tut weh wie immer, seit sie vor drei Jah
ren auf dem Weg zur banja die Treppe hinuntergefallen ist. Sotow hörte das Geräusch und eilte herbei. Er sorgte dafür, dass sie sich auf eine Stufe setzte und wartete, bis der Schwindel abgeklungen war, dann half er ihr auf, ganz langsam, damit das Blut ihr nicht in den Kopf stieg. Von ein paar Schrammen abgesehen, hatte sie keine Verletzungen davongetragen, so dachte sie, und doch lässt ihr Knie sie jenen Sturz nie vergessen.
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9.01 Uhr
Jeder Schritt, so unsicher er auch ist, erscheint ihr wie ein Wunder. Die Muskeln ziehen sich zusammen und entspannen sich. Die FüÃe schlurfen vorwärts, zuerst der eine, dann der andere. Wie bei der Aufziehpuppe, mit der ihre Enkelinnen so gern gespielt haben. Bis Konstantin sie aufschlitzte, um zu sehen, was in ihrem Inneren verborgen war.
Sie geht aus ihrem Arbeitszimmer, vorbei an dem in Silber gerahmten Spiegel, neben dem ihre mit Pelz gefütterten Mäntel hängen, und zur Tür ihres Klosetts.
Das Abbild ihrer Gestalt im Spiegel wirkt wie auf einer bewegten Wasserfläche, ein Wirrwarr aus verzerrten Teilen, die nicht
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