Die zerbrochene Welt 02 - Feueropfer
Ihre beweglichen Wurzeln trugen sie schneller fort, als er es bei einer Yateveo für möglich gehalten hatte.
Alles um ihn herum drehte sich. Er schloss ganz kurz die Augen, um die Benommenheit abzuschütteln. Jetzt nur nicht ohnmächtig werden! Am liebsten wäre er einfach liegen geblieben und hätte das Ende des Erdbebens abgewartet – es wurde bereits schwächer. Doch das durfte er nicht.
Sein von Schmerzen und Nesselgift gepeinigtes Bewusstsein richtete sich an der Sorge um seine Familie auf. Mühsam kroch er unter dem Blattwerk des Strauches hervor. Als er zum Ende des Feldes blickte, durchfuhr ihn ein kalter Schauer.
Eine schillernde Wand hatte sich vom Himmel bis zum Acker herabgesenkt. Jenseits davon knieten, einander umarmend, Shúria und Ari. Sie entfernten sich rasch. Und mit ihnen trieben sein Haus, die Scheune und der Stall von ihm fort. Die gesamte Landzunge war von der Insel Barnea abgebrochen.
Wieder schrie Taramis auf. Er kämpfte sich unter Schmerzen auf die Beine und wankte auf das Ende des Feldes zu, die Arme verzweifelt nach seiner Frau und dem Sohn ausgestreckt. Vergeblich klammerte sich sein Geist an die Scholle, während diese sich rasch entfernte – schließlich konnte er keine ganze Halbinsel festhalten. Selbst ohne das Nesselgift im Körper hätte er das nicht vermocht.
Mit Tränen in den Augen sank er auf die Knie. Seine bebenden Lippen formten immer wieder die Namen von Shúria und Ari, während er das Unfassbare hilflos mit ansehen musste.
Unaufhaltsam entschwand die Landzunge samt Frau und Sohn im Weltenozean.
2. Fortgerissen
J etzt kannst du dein Versprechen einlösen.« Shúria hatte den Kopf zur Seite geneigt, während sie Taramis von unten herauf anlächelte. Sie standen auf dem Dach des hohepriesterlichen Hauses. Über ihnen strahlte der Abendhimmel in feurigen Farben. In der Ferne konnte man den Garten der Seelen sehen, einen dunklen, von Dunstschleiern umwaberten Saum.
»Versprechen?«, echote er. »Welches Versprechen?«
»Dass ich bei dir bleiben darf. Für immer.«
Der Hüter von Jâr’en, der seine Krieger stets so souverän führte, wirkte mit einem Mal verunsichert. Sein Blick wanderte Hilfe suchend über die Dachterrasse hinweg zu einem Korbsessel, in dem der Hohepriester saß. Eli nickte ihm lächelnd zu. Es war eine Geste der wohlwollenden Zustimmung. Ein stilles Wenn du meine Tochter zur Frau nehmen willst, meinen Segen dazu hast du.
»Weißt du noch, was ich dich vor einem Jahr gefragt habe?«, hakte Shúria nach.
Taramis runzelte die Stirn. »Sollte ich?«
Sie warf den Kopf in den Nacken und verdrehte die Augen. »Typisch Mann! Ich wollte von dir wissen, ob es dir unangenehm ist.«
»Was?«
»Dass du mein Held bist.«
»Ach das!«
»Du meintest, du seist gespannt, was als Nächstes kommt.«
»Und du sagtest schmunzelnd: ›Da fällt mir schon was ein.‹«
»Also erinnerst du dich doch. Damals hatte jeder von uns genug mit seiner Trauer um Xydia zu tun. Inzwischen sind zwölf Monate vergangen, wir haben uns fast täglich gesehen und ich konnte viel über uns beide nachdenken.«
»Sag mal, wird das jetzt so etwas wie ein Heiratsantrag?«
Sie zuckte die Schultern. »Wenn du mich nicht fragst …« Wirkungsvoll ließ sie ihre Stimme verstummen und bedachte ihn mit einem Augenaufschlag.
Er räusperte sich. »Ich weiß nicht, ob ich schon so weit bin.«
»Ist das die Frage, die du dir beantworten musst?«
»Wie bitte?«
Sie legte ihre Hand an seine Wange. »Solange du den Glocken der Trauer in deinem Herzen lauschst, wirst du sie auch hören. Aber wie steht es mit dem Klang des Glücks? Wirst du jemals wieder einen Menschen finden, der so gut zu dir passt wie ich?«
Überrascht sah er sie an. »Manchmal wundere ich mich, wie ungeniert du solche Dinge sagst.«
Shúria lächelte keck. »Aus mir spricht der Freimut einer Neunzehnjährigen. Meine Zunge ist noch nicht vom Gift der Bedenken gelähmt.«
»Das einfältige Mädchen nehme ich dir nicht ab. Dazu kenne ich dich inzwischen zu gut. Es stimmt nämlich.«
»Was … stimmt?«
»Du hast nicht nur das Licht in mein Herz zurückgebracht, sondern auch die Freude. Und die Fähigkeit, Menschen innig zu lieben.« Er schüttelte den Kopf. »Nein.«
Shúria merkte, wie ihr der Mut sank. »Nein? Was meinst du jetzt da mit?«
Er küsste sie auf die Stirn. »Ich finde nie wieder jemanden, der mich so … ganz und gar, so vollständig machen wird, so wie du es tust.« Taramis nahm ihre Hände.
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