Die Zuflucht
lange, um meine Sachen zu packen. Oma Oaks half mir und faltete die neue Kleidung in kleine Päckchen, die sich gut verstauen ließen. Sie musste etwas tun, konnte nicht einfach still danebenstehen, und ich war ihr unendlich dankbar, weil sie mir den Abschied nicht noch schwerer machte, als er ohnehin schon war. Schließlich steckte ich die Mappe mit Draufgängers Karten ein. Unterwegs würde ich sie brauchen.
» Edmund kommt erst zum Abendessen nach Hause. Wirst du dann noch hier sein?«
» Natürlich.« Bis dahin wäre es ohnehin noch nicht ganz dunkel.
Zu meiner großen Überraschung kamen auch noch Rex und dessen Frau Ruth. Sie war eine zurückhaltende Person und schien sich in der Gegenwart von Rex’ Eltern nicht ganz wohl zu fühlen, aber ich war ihr trotzdem dankbar, dass sie gekommen war. Sobald ich fort war, würden meine Pflegeeltern ihren Sohn mehr brauchen denn je. Vielleicht war es doch richtig gewesen, mich in ihre Familienangelegenheiten einzumischen.
Beim Abendessen sprach ich kaum ein Wort, und nach jedem Bissen hingen Edmunds Mundwinkel noch ein Stückchen weiter nach unten. Oma Oaks versuchte, eine Unterhaltung in Gang zu bringen, und Ruth tat sogar ein bisschen zu viel des Guten. Ab und zu warf Rex etwas ein, aber er schien die Schwere des Moments instinktiv zu spüren, auch wenn er noch gar nichts von meiner Abreise wusste.
Oder er wusste doch Bescheid, denn schließlich sagte er leise: » Ich möchte mich bei dir bedanken. Ich hatte vergessen, was wirklich wichtig ist im Leben… und mein Stolz gehört nicht dazu.«
» Ich war unhöflich zu dir«, murmelte ich.
Rex zuckte die Achseln. » Ich hatte es verdient.«
Für den Rest des Abendessens war mir etwas leichter ums Herz, und nach dem Abwasch fragte ich Ruth: » Was ist damals eigentlich vorgefallen?«
Sie starrte den Teller in ihren Händen an. » Es waren mehrere Dinge… Normalerweise würde ich dir nichts davon erzählen, weil ich dich nicht kenne, aber jetzt gehörst du zur Familie.«
» Danke«, sagte ich gerührt.
Ruth sprach weiter. » Ich war… schwanger, als Rex mich geheiratet hat. Seine Familie hielt mich deshalb für ein schlechtes Mädchen, und schließlich verlor ich auch noch das Baby. Einige behaupteten, es wäre eine Strafe des Himmels gewesen.«
Diese Leute hatte nichts Besseres verdient als einen Tritt ins Gesicht. » Das tut mir leid.«
» Schließlich hat Rex sich wegen meiner Liebe zu mir mit seinen Eltern zerstritten. Er wollte nicht mehr in der Werkstatt seines Vaters arbeiten, und irgendwann wurde es so schlimm, dass sie überhaupt nicht mehr miteinander sprachen.«
Bis ich kam und ihn aufforderte, die Sache ins Reine zu bringen.
Als alles fertig war, wünschten Rex und Ruth mir alles Gute für meine Reise. Es war beinahe Zeit zum Aufbruch, und Oma Oaks war den Tränen nahe. Kurz bevor ich ging, ermahnte mich Edmund noch, gut auf meine Stiefel aufzupassen, und schloss mich in eine ungeschickte Umarmung. Doch in seinen Augen standen ganz andere Dinge wie: Ich werde dich vermissen. Komm wohlbehalten zurück, und vor allem, brich deiner Mutter nicht das Herz.
Für einen letzten, unglaublich schönen Moment schwelgte ich in dem Gefühl, eine Familie zu haben. Dann verließ ich sie.
Blieben nur noch drei Menschen, von denen ich mich verabschieden musste. Alle anderen in Erlösung waren mir nicht wichtig genug. Sollte Elder Bigwater eine kurze öffentliche Erklärung zu meinem Verschwinden abgeben, wenn er wollte.
Als Erstes ging ich zu Pirscher, der immer wie ein Fels gewesen war, egal was passierte. Er hatte es verdient, vor allen anderen davon zu erfahren. Trotz der späten Stunde arbeitete er immer noch in der Schmiede. Er stellte Munition her und goss gerade geschmolzenes Metall in eine Form. Schweiß glänzte auf seinem Gesicht und ließ die Narben darauf leuchten, aber er schien froh, mich zu sehen– bis er den Beutel und das Gewehr über meiner Schulter entdeckte.
» Musst du irgendwohin?«, fragte er.
Knappe Worte für einen so schweren Abschied, aber so war er nun einmal.
» Bist du gekommen, um mir auf Nimmerwiedersehen zu sagen?«
» Ich habe keine andere Wahl.«
In seinen Augen brannte kalte Wut. » Doch, die hast du.« Er riss sich die lederne Schürze vom Leib. » Sag: Komm mit mir, Pirscher.«
Ich starrte ihn erschrocken an. » Bist du sicher, dass dein Bein schon so weit ist?«
Als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, ging er noch auf einen Stock gestützt. Jetzt konnte ich die
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