Die Zunge Europas
nicht dafür gemacht und haben davon nichts außer Leid, Sehnsucht und einem sinnlosen Losstürmen des Blutes. So einfach ist das. Nichts Spektakuläres, nichts Besonderes, Millionen Männern geht es so. Die meisten kapieren nur nicht, sie wollen ums Verreckennicht kapieren, dass sie es abschalten müssen, und zwar grundsätzlich abschalten: Früher hätte man dazu Askese gesagt oder Kasteiung oder Selbstzucht. Egal, ich nenne es «Desexualisierung». Vielleicht gibt es den Begriff schon in irgendeinem Zusammenhang, sozusagen offiziell/wissenschaftlich, interessiert mich nicht, ab jetzt ist es
mein
Wort. Copyright: M. Erdmann. Im Grunde genommen gibt es nur eine Regel: Enthaltsamkeit. Enthaltsamkeit in den Blicken, Enthaltsamkeit in den Gedanken, Enthaltsamkeit in allem. Im Idealfall unterstützt durch Sport, gesunde Ernährung, wenig Alkohol und kalt Duschen, aber das ist vielleicht doch etwas zu viel verlangt. Auf jeden Fall: Ich hab’s ganz gut in den Griff bekommen, bin quasi bummelig pi mal Daumen auf halber Strecke angekommen. Nur das mit der Sehnsucht, das ist nicht so leicht, denn die Sehnsucht ist viel hartnäckiger als das Verlangen. Aber das würde ich auch noch hinbekommen.
Krrrrk … Krrk … krkk. Die Klingel der Großeltern, nach vierzig Jahren Dauerbetrieb müde geworden, bekommt immer öfter Aussetzer. Manchmal kann man zehn Sekunden drücken, und nichts passiert, dann plötzlich reißt einen das rohe Industrialsample aus den Tagträumereien. Krrrk … Krrrrrrrrk.
Meine Güte, wie lange dauert das denn! Ich starrte auf das stumpfe, mit Grünspan oder irgendetwas anderem (bei mir ist immer alles Grünspan) angelaufene Schild. Wenn ich es nur intensiv genug fixierte, würde es abfallen. War nur so ein Gefühl. Vielleicht hatte ich telepathische Fähigkeitenund wusste es nicht. Riesentalent als Wünschelrutengänger, hätte Erdstrahl- oder Wunderheiler werden sollen. Astrotyp. Hätte, sollte, würde, könnte, jetzt war es zu spät. Die Buchstaben verschwammen vor meinen Augen. E.R.D.M.A.N.N. Da komm ich her, da geh ich hin. E.R.D.M.A.N.N., der, der in der Erde lebt, was für ein mittelmäßiger Name, da ist die Begrenzung und Perspektivlosigkeit schon mit eingebaut. Man hört einfach nichts, keinen Sound, kein Echo. E.R.D.M.A.N.N. Gehe nicht über Los. Ziehe keine 4000 Mark ein. Gehe ins Gefängnis. Begib dich direkt dorthin. Besser: Abschminken und in den
Holzpyjama
schlüpfen (österreichisch für Sarg). Tolles Wort, Holzpyjama.
Oma öffnete mit dem nur für mich reservierten Gesichtsausdruck: Enttäuschung und Trauer. Ich sollte mich schuldig fühlen. Als Grundgefühl. Entweder fürs Zuspätkommen oder für die anderen Sachen, die ich schon verbrochen hatte und noch verbrechen würde, und wenn das alles nicht langte, gab’s ja noch die Erbsünde. Ob jung, ob alt, Frauen beherrschen das in der Regel aus dem Effeff.
«Ach, Markus, wir dachten schon, du kommst gar nicht mehr. Du hättest doch wenigstens mal anrufen können.»
«Erst mal schönen Sonntag. Wenn ich dir sage, was mir gerade passiert ist, das glaubst du nicht.»
«Nun setz dich mal gleich hin. Für die Kartoffeln kann ich nicht mehr garantieren. Wir haben uns schon Sorgen gemacht.»
Wir
war gut, denn Opa zog sich langsam, aber sicher ins dunkelsamtene Bett der Demenz zurück und konntesich schon seit geraumer Zeit keine Sorgen mehr machen. Keine richtigen jedenfalls. Demenz? Alzheimer? Verkalkung? Die Ärzte wussten es auch nicht. Vor zwanzig Jahren wäre es automatisch Verkalkung gewesen, heute ist es immer automatisch Alzheimer. Im Grunde genommen auch völlig egal, denn die Diagnose ändert nichts (wie bei Rückenschmerzen. Kurzhörspiel: Doktor: «Ganz schief und krumm, Ihr Rücken.» Ich: «Und nun?» Doktor: «Tja.»). Großvaters Verfall war unaufhaltsam, und der Tag rückte näher, an dem er Windeln würde tragen müssen, spätestens dann käme Oma um einen ambulanten Pflegedienst nicht mehr herum, und sobald selbst das nicht mehr reichen würde, gäbe es nur noch das Heim. Oma wusste es, Opa spürte es.
Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem es losging: Opa war zeit seines Lebens ein formidabler Schachspieler gewesen, nie hatte ich eine Chance gegen ihn gehabt. Noch nicht mal aus Mitleid oder weil ich sein Enkel war, ließ er mich mal eine Partie gewinnen. Wie immer saßen wir uns also schweigend gegenüber, und plötzlich machte er einen unbegreiflichen Anfängerfehler. Dann noch
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