Tausendundeine Stunde
Kapitel 1
Das Smiley auf dem Monitor grinste. Gelb, breit, unverschämt. Georg hatte es aufgeklebt. Als Motivation. Manchmal konnte er nett sein. Und obwohl ich mich weder mit dem Computer und schon gar nicht mit dem Internet anfreunden wollte, machte ich mit Georg einen Crash-Kurs. Nun wusste ich, dass es sich bei RAM nicht um eine neue Boy-Group handelte. Oder, was ich kreativer fand, keine Abkürzung war für die Kreuzung eines russisch-amerikanischen Milch-Woll-Schweins. Georg machte mir auch klar, dass Byte nicht als neues Waschmittel erhältlich wäre. All dieses Wissen nutzte mir nichts. Ich hatte meine erste E-Mail erhalten und diese wollte ich öffnen. Aber so weit vorangeschritten war ich noch nicht. Ich rief Georg auf der Arbeit an. „Sag mal, wie öffne ich eine E-Mail?“, fragte ich zaghaft.
„Wozu musst du das ausgerechnet jetzt wissen? Das erkläre ich dir, wenn du eine Mail bekommen hast.“
„Aber ich habe eine bekommen und die will ich jetzt lesen!“
„Das ist sicher nur eine Begrüßungsmail von unserem Anbieter, also unwichtig. Geh mir da nicht alleine ran. Möglicherweise steckt auch ein Virus dahinter. Ich muss jetzt Schluss machen, bis heute Abend.“
Das war eine klare Anweisung. Ich sollte nicht alleine ran gehen, also klingelte ich bei Mike, dem Nachbarssohn. Kurze Zeit später weihte mich Mike in die wunderbare Welt der elektronischen Post ein. Höchst zufrieden saß ich vor dem Rechner und öffnete meine erste Mail. Mike saß neben mir. „Sie können nichts falsch machen, Frau Leonhardt. Der Rechner macht nur das, was Sie ihm sagen. Klicken Sie schon drauf“, ermutigte er mich.
Ich klickte und die Mail öffnete sich: „Hallo, Joe! Anbei die gewünschte Recherche. Bei Fragen rufe an. Liebe Grüße nach Berlin, Esther.“ Mike schaute mich an: „Sie heißen nicht Joe, oder?“ Ich schüttelte den Kopf. „Vielleicht hat mein Mann Recht und irgendjemand verschickt hier seine Viren. Ich sollte es löschen.“
„Das können Sie doch nicht machen. Wenn bei Ihnen im Briefkastenkasten ein Brief liegt, der für den Nachbarn bestimmt ist, werfen Sie ihn doch auch nicht weg, sondern bringen ihn hin. Ich denke, dass Joe Leonhardt eine ähnliche Adresse wie Sie hat. Vielleicht kommt ein Punkt dazwischen oder ein Minus. Wir probieren es zuerst mit dem Punkt“, entschied er.
Stolz schrieb ich meine erste E-Mail: „Guten Tag, Joe Leonhardt! Falls Sie eine Esther kennen, in Berlin leben und auf wichtige Informationen warten, dann kontaktieren Sie mich bitte. Ich habe eine Mail erhalten, die vermutlich für Sie bestimmt ist. Gruß, Juliane Leonhardt.“ Nun drückte ich auf „senden“. Obwohl das keine großartige Leistung war, fühlte ich mich wie ein Kind, das den ersten Schritt gewagt hatte.
Mike zeigte mir, wie man Mails weiterleitet und verabschiedete sich danach.
Kurz darauf kam Georg nach Hause. Wahrscheinlich hatte er wieder einen anstrengenden Arbeitstag gehabt. Er hatte diesen „Sprich-mich-nicht-an-Blick“. Ich stellte ihm das Abendessen hin und ließ ihn in Ruhe. Eine halbe Stunde später war er gesprächsbereit. „So, jetzt zeige ich dir schnell, wie man E-Mails öffnet.“ Ich lächelte nett und sagte ihm, dass Mike am Nachmittag ganz zufällig da war und dass er es mir erklärt hätte. Georg brubbelte irgendetwas Unverständliches vor sich hin, wahrscheinlich sah er sich seiner Chance beraubt, mich schulmeisterlich zu belehren. „Ich bin am Computer, ein bissel üben“, rief ich ihm zu und hoffte, dass dieser Joe geantwortet hatte. Das hatte er.
„Guten Abend, Namensvetterin! Ja, ja und ja. Ich kenne eine Esther, lebe in Berlin und warte dringend auf eine Recherche. Schicken Sie mir die Mail bitte zu? Herzlichen Dank, Joe Leonhardt.“
Ich nahm mir meine kurzen Notizen zur Weiterleitung einer Mail zur Hand und antwortete: „Hallo, Joe mit Punkt! Hier kommt, wie versprochen, die fehlgeleitete Nachricht. Ich wünsche Ihnen eine gute Zeit. Gruß, Juliane Leonhardt.“
Ja war ich noch zu retten? Spätestens mit dem Satz „Ich wünsche Ihnen eine gute Zeit“ hatte ich signalisiert: So, jetzt haste deine Mail und nun lass mich in Ruhe. Also setzte ich ein PS darunter: „Wäre nett, wenn Sie mir ein kurzes Feedback geben, ob es mit der Weiterleitung der E-Mail geklappt hat.“ Und, damit er nicht glaubte, ich wollte um jeden Preis eine Antwort von ihm haben fügte ich noch hinzu: „Ich bin noch sehr unsicher im Umgang mit dem Internet. Deshalb würde es
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