Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)
vorgezogen, Ihnen zuvorzukommen.«
Alice hütete sich zuzugeben, dass sie das letzte Streichholz verbraucht hatte, um den Kerzenstummel anzuzünden. Daldry zündete den Docht an und schien zufrieden, als die Flamme aufflackerte.
»Habe ich etwas Falsches gesagt?«, fragte er.
»Warum?«, gab Alice zurück.
»Sie machen plötzlich so ein finsteres Gesicht.«
»Es ist ja auch nicht besonders hell, Mister Daldry.«
»Wenn ich Sie Alice nennen soll, müssen auch Sie mich bei meinem Vornamen Ethan nennen.«
»Sehr gut, ich werde Sie Ethan nennen«, antwortete Alice und lächelte ihren Nachbarn an.
»Aber egal, was Sie behaupten, Sie sehen verärgert aus.«
»Ich bin nur müde.«
»Na, dann lasse ich Sie jetzt. Gute Nacht, Miss Alice.«
»Gute Nacht, Mister Ethan.«
Kapitel 2
Sonntag, 24. Dezember 1950
Alice ging einige Einkäufe machen. Da in ihrem Viertel alles geschlossen war, fuhr sie mit dem Bus zum Portobello Market.
Sie blieb bei einem ambulanten Händler stehen und beschloss, alles Nötige für ein richtiges Festessen zu kaufen. Sie wählte drei schöne Eier aus und vergaß ihre Sparvorsätze angesichts des Bacons, von dem sie zwei Scheiben nahm. Etwas weiter entdeckte sie in der Auslage einer Bäckerei köstliche Törtchen. Sie entschied sich für ein Hefegebäck mit kandierten Früchten und einen kleinen Topf Honig.
An diesem Abend würde sie mit einem guten Buch in ihrem Bett essen. Dann würde sie ausgiebig schlafen, und morgen hätte sie ihre Lebensfreude wiedergefunden. Bei Schlafmangel bekam Alice schlechte Laune, und noch dazu hatte sie in den letzten Wochen viel zu viel Zeit an ihrem Arbeitstisch verbracht. Ihr Blick fiel auf einen Strauß alter Rosen im Schaufenster eines Blumenhändlers. Das war zwar alles andere als vernünftig, aber schließlich war Weihnachten. Und wenn er einmal getrocknet wäre, würde sie die Blüten verwenden können. Sie bezahlte zwei Shilling und verließ hochzufrieden den Laden. Dann setzte sie ihren Rundgang fort und blieb vor einer Parfümerie stehen. An der Türklinke hing ein Schild mit der Aufschrift »Geschlossen«. Alice drückte die Nase an die Scheibe und erkannte unter den Flakons ihre Kreation. Sie winkte ihr zu wie einer alten Bekannten und ging weiter zur Autobushaltestelle.
Zu Hause angekommen, verstaute sie ihre Einkäufe, stellte die Blumen in eine Vase und beschloss, im Park spazieren zu gehen. Unten an der Treppe traf sie ihren Nachbarn, der offenbar ebenfalls vom Markt zurückkam.
»Weihnachten … was will man machen!«, sagte er sichtlich verlegen angesichts der Menge von Lebensmitteln in seinem Korb.
»Weihnachten, ja in der Tat. Bekommen Sie heute Abend Besuch?«
»Um Gottes willen, nein! Ich hasse diese Festtage«, murmelte er und schien sich der Ungehörigkeit dieses Geständnisses bewusst.
»Sie auch?«
»Und erst Silvester, ich glaube, das ist noch schlimmer! Wie soll man im Voraus entscheiden, ob es ein Festtag wird oder nicht? Wer kann vor dem Aufstehen wissen, ob er gut gelaunt sein wird? Ich finde es absolut heuchlerisch, so zu tun, als wäre man glücklich.«
»Aber die Kinder …«
»Ich habe keine – ein Grund mehr, nichts vorzutäuschen. Und dann diese Obsession, sie an den Weihnachtsmann glauben zu lassen … Da kann man sagen, was man will, ich finde das geradezu gemein. Wozu soll das gut sein? Eines Tages muss man ihnen ohnehin die Wahrheit sagen. Mir scheint das sogar etwas sadistisch. Die Unbedarften verhalten sich wochenlang brav, weil sie auf den dicken Mann in Rot warten, und fühlen sich unglaublich verraten, wenn ihnen die Eltern schließlich den Schwindel gestehen. Und die Klügeren müssen das Geheimnis wahren, was ebenso grausam ist. Und Sie? Erwarten Sie Ihre Familie?«
»Nein.«
»Aha?«
»Ich habe keine Familie mehr, Mister Daldry.«
»Das ist allerdings ein guter Grund, sie nicht einzuladen.«
Alice sah ihren Nachbarn an und musste laut lachen.
Daldrys Wangen röteten sich. »Meine Bemerkung war furchtbar ungeschickt, nicht wahr?«
»Aber sie zeugt von gesundem Menschenverstand.«
»Ich habe eine Familie, ich meine einen Vater, eine Mutter, einen Bruder, eine Schwester und schreckliche Neffen.«
»Und Sie verbringen Heiligabend nicht mit ihnen?«
»Nein, schon seit Jahren nicht mehr. Ich verstehe mich nicht mit ihnen, was auf Gegenseitigkeit beruht.«
»Auch ein guter Grund, zu Hause zu bleiben!«
»Ich habe mich wirklich angestrengt, aber jedes Familientreffen endete in einem Desaster.
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