Die Hornisse
Kapitel 1
An jenem Morgen hing der Sommer schwer und düster über Charlotte, die Hitze flimmerte über dem Asphalt. Dichter Verkehr schob sich durch die Straßen. Menschen drängten und stießen sich auf der Jagd nach Glück, während rechts und links Baugerüste emporwuchsen und Bulldozer die Vergangenheit beiseite räumten. Das US Bank Corporate Center erhob sich sechzig Stockwerke hoch über der Innenstadt und gipfelte in einer Krone, die an riesige, dem Gott des Geldes zu Ehren eine Hymne spielende Orgelpfeifen, erinnerte. Diese Stadt brannte vor Ehrgeiz und Veränderungsgier. Sie war so schnell gewachsen, daß sie oft genug ihre eigenen Straßen nicht mehr kannte. Wie ein pubertierender Jugendlicher entwickelte sie sich ungestüm, manchmal tolpatschig, und von dem, was ihre Gründer einst Stolz genannt hatten, etwas zu sehr durchdrungen.
Die Stadt und das dazugehörige County waren nach Prinzessin Charlotte Sophie von Mecklenburg-Strelitz benannt, der späteren Gemahlin König Georgs III. Während damals die Deutschen nach denselben Freiheiten wie die Schotten und Iren strebten, hatten die Engländer entgegengesetzte Ziele. Als deswegen Lord Cornwallis 1780 beschloß, in die Stadt, die später unter dem Namen Queen City bekannt wurde, einzumarschieren, und sie zu besetzen, wurde er von den starrköpfigen Presbyterianern so feindselig empfangen, daß er für Charlotte den Beinamen »Hornissennest Amerikas« erfand. Zwei Jahrhunderte später war dieses schwärmende Insekt offizielles Wappen der Stadt, seines NBA-Teams und der Polizeibehörde, die über alles ihre schützende Hand hielt.
Denselben weißen wirbelnden Derwisch auf mitternachtsblauem Grund trug Deputy Chief Virginia West auf den Schulterklappen ihrer weißen, gestärkten Uniformbluse, auf der sich noch andere Orden- und Ehrenzeichen befanden. Die meisten Cops hatten, offen gesagt, nicht die geringste Ahnung, was das Wappen bedeutete. Für manche sah es aus wie ein Wirbelsturm, eine weiße Eule oder ein Pfeil mit Widerhaken. Andere waren sicher, daß es mit Sportveranstaltungen in der Halle oder dem neuen Zweihundertdreißig-Millionen-Dollar-Stadion zu tun hatte, das breit wie ein gerade gelandetes Raumschiff in der Innenstadt hockte. Aber West war schon mehr als einmal gestochen worden und wußte genau, was es mit dem Hornissennest auf sich hatte. Das nämlich erwartete sie, wenn sie morgens zur Arbeit fuhr oder den Charlotte Observer las. Gewalt drang aus jedem Winkel der Stadt, und die Zeitung war voll davon. An diesem Montag war sie düsterer gereizter Stimmung, gerade richtig, um in diesem Nest herumzustochern. Die städtische Polizei war erst vor kurzem in den neuen, weißschimmernden Betonkomplex umgezogen, der nun Law Enforcement Center oder kurz LEC hieß. Er lag im Herzen der City an der Trade Street, jener Straße, über die vor langer Zeit die britischen Unterdrücker in die Stadt einmarschiert waren. Die Bautätigkeit in dieser Gegend nahm kein Ende, als ob Veränderung ein Virus wäre, das auch von Wests Leben Besitz ergriff. Parken am LEC war immer noch ein Desaster, und ihr Büro hatte sie auch noch nicht vollständig bezogen. Alles war voller Schlammpfützen und Staub, und das edle Uniformblau ihres neuen Dienstwagens veranlaßte sie, dreimal wöchentlich die Waschanlage aufzusuchen.
Als sie bei den reservierten Parkplätzen ankam, traute sie ihren Augen nicht. Auf ihrem Platz stand so ein Ding Marke Drogendealer, ein papageiengrün lackierter, mit viel Chrom aufgemotzter Suzuki, für den, wie sie wußte, die Leute sich aus mehr als einem Grund überschlugen.
»Verdammt!« Sie blickte sich um, als könnte sie die Person wiedererkennen, die sich diese Frechheit erlaubt hatte. Andere Polizisten parkten ein und aus, transportierten Häftlinge hin und zurück. In einer Dienststelle wie dieser mit ihren sechzehnhundert Polizeibeamten und Zivilangestellten, kehrte niemals Ruhe ein. Einen Moment lang blieb West einfach sitzen und suchte mit den Augen den Parkplatz ab, während sie der Duft des Bacon-and-Egg-Sandwiches von Bojangles, das inzwischen kalt geworden war, in der Nase kitzelte. Schließlich fuhr sie ihren Wagen auf einen gebührenpflichtigen FünfzehnMinuten-Stellplatz direkt vor den spiegelnden Eingangstüren, parkte und stieg, während sie, so gut es ging, versuchte, ihre Aktentasche, die Handtasche, ein paar Aktenordner, Zeitungen, ihr Frühstück und einen großen Becher Kaffee zu balancieren, aus dem Auto.
In dem Moment,
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