Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)
»Ich glaubte nicht an das Schicksal und die kleinen Zeichen im Leben, die uns angeblich den Weg weisen. Ich glaubte nicht an Wahrsagerinnen oder Kartenlegerinnen, die einem die Zukunft voraussagen. Ich glaubte höchstens an einfache Koinzidenzen, an die Wahrheit des Zufalls.«
»Warum hast du dann diese lange Reise unternommen, warum bist du hierhergekommen, wenn du an all das nicht glaubst?«
»Wegen eines Klaviers.«
»Eines Klaviers?«
»Es war verstimmt, wie früher die alten Kisten in den Tanzlokalen. Es hatte etwas Besonderes – oder vielleicht war es auch der, der darauf spielte.«
»Der darauf spielte?«
»Mein Flurnachbar, das heißt, eigentlich bin ich mir da auch nicht ganz sicher.«
»Du bist also heute Abend hier, weil dein Nachbar Klavier gespielt hat?«
»In gewisser Weise ja. Wenn seine Noten im Treppenhaus widerhallten, hörte ich meine Einsamkeit, und um ihr zu entfliehen, war ich bereit, an jenem Wochenende mit nach Brighton zu fahren.«
»Du musst mir die Geschichte von Anfang an erzählen. Die Dinge wären sicher klarer, wenn du sie mir in der richtigen Reihenfolge darstellen würdest.«
»Das ist aber eine lange Geschichte.«
»Wir haben Zeit. Der Wind kommt vom Meer, und es sieht nach Regen aus«, sagte Rafael. »Ich fahre frühestens in zwei oder drei Tagen wieder raus. Ich mache uns Tee, und dann erzählst du mir alles, aber du musst mir versprechen, nichts auszulassen. Wenn das Geheimnis, das du mir anvertraut hast, wahr ist und wir jetzt für immer verbunden sind, muss ich alles wissen.«
Rafael kniete sich vor den gusseisernen Ofen, öffnete die Tür und blies in die Glut.
Sein Haus war ebenso bescheiden wie sein Leben. Ein Zimmer, vier Wände, ein schiefes Dach, ein abgetretener Fußboden, ein Bett, ein Waschbecken und darüber ein Hahn, aus dem das Wasser mit Tagestemperatur lief, das heißt im Winter eiskalt und im Sommer lauwarm, obwohl es genau umgekehrt hätte sein müssen. Es gab nur ein einziges Fenster, doch das ging auf den Bosporus hinaus, und von dem Tisch aus, an dem Alice saß, sah man die großen Schiffe, die in die Meeresenge fuhren, und auf der anderen Seite das europäische Ufer. Alice trank einen Schluck von dem Tee, den Rafael ihr eingeschenkt hatte, und begann ihre Erzählung.
Kapitel 1
London, Freitag, 22. Dezember 1950
Die Tropfen trommelten auf das Glasdach über dem Bett. Ein heftiger Winterregen. Aber es würde noch viel mehr regnen müssen, um die Stadt vom Schmutz des Krieges reinzuwaschen. Es herrschte erst seit fünf Jahren Frieden, und London trug noch die Stigmata der Bombenangriffe. Das Leben nahm wieder seinen Lauf, man schränkte sich ein – weniger zwar als in den vorhergehenden Jahren, aber immer noch ausreichend, um sich an jene Tage zu erinnern, als man sich satt essen konnte und Fleisch nicht nur aus Konserven kannte.
Alice verbrachte den Abend in Gesellschaft ihrer Freunde zu Hause: Sam, Buchhändler bei Harrington & Sons und ein ausgezeichneter Kontrabassist; Anton, Schreiner und ein herausragender Trompeter; Carol, Krankenschwester, seit Kurzem von der Armee freigestellt und jetzt am Chelsea Hospital tätig; Eddy, der am Fuß der Treppe der Victoria Station oder, wenn es ihm erlaubt war, in den Pubs zur Gitarre sang.
Von ihm kam der Vorschlag, am nächsten Tag einen Ausflug nach Brighton zu unternehmen, um das bevorstehende Weihnachtsfest einzuläuten. Der Jahrmarkt, der an der langen Mole abgehalten wurde, war wieder eröffnet, und an einem Samstag herrschte auf dem Volksfest sicher eine Bombenstimmung.
Jeder hatte Kassensturz gemacht und seine letzten Pennys zusammengekratzt. Eddy hatte etwas Geld in einer Bar in Nottingham verdient, Anton hatte zum Jahresende eine kleine Prämie von seinem Chef bekommen, Carol hatte nichts, aber sie hatte sowieso nie Geld, und ihre alten Freunde waren daran gewöhnt, für sie zu bezahlen, Sam hatte eine Originalausgabe von The Voyage out und eine Zweitausgabe von Mrs. Dalloway – beide Titel von Virginia Woolf – an einen amerikanischen Kunden verkauft und damit an einem Tag so viel verdient wie sonst in der ganzen Woche. Was Alice anging, so verfügte sie über einige Ersparnisse, und nachdem sie das ganze Jahr über gearbeitet hatte wie eine Besessene, hatte sie es verdient, diese jetzt auszugeben. Außerdem wäre ihr jeder Vorwand recht gewesen, um einen Samstag mit ihren Freunden zu verbringen.
Der Wein, den Anton mitgebracht hatte, korkte und schmeckte nach Essig, aber alle hatten
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