Die zweite Kreuzigung
für ihn.
Gerald, sein alter Kamerad Chips und ein halbes Dutzend sehr betagter Gäste waren zu Hause geblieben. Während die anderen sich dem Bridge hingaben, zogen sich die beiden alten Soldaten nach oben in Geralds Arbeitszimmer zurück. Chips betrat zum ersten Mal diesen Raum, wo der Herr von Woodmancote die Andenken an sein ganzes Leben aufbewahrte. Sie lagen verstreut auf Tischen und Tischchen herum oder waren in Schränke und Schubfächer gestopft. Bücherregale an allen Wänden reichten vom Boden bis zur Decke, gefüllt mit einem bunten Gemisch von Bänden aller Art, Farbe, Einband und Größe. Manche standen ordentlich aufgereiht, andere waren achtlos darübergelegt. Selbst den Fußboden bedeckten Bücherstapel, einige emporgewachsen wie Stalagmiten, andere übereinander gefallen wie nach einem Erdbeben. Dies war das Allerheiligste des Hauses, ein Refugium, zu dem außer den engsten Anverwandten kaum jemand Zutritt hatte.
Zu beiden Seiten eines großen Kamins standen zwei Sessel, beide abgeschabt und nicht mehr sehr bequem, aber wie mit diesem Raum verwachsen. Dort ließen sich die beiden Freunde nieder. Gerald hatte im Vorbeigehen eine Flasche seines Lieblingswhiskys Benromach mitgenommen, die er nun auf dem kleinen Tischchen zwischen ihnen abstellte. Zwei Gläser und einen Krug Wasser hatte Mrs. Salgueiro, die portugiesische Haushälterin, bereits vorsorglich dort deponiert.
Die beiden hatten sich seit über zehn Jahren nicht mehr gesehen. In dieser Zeit waren alte Freunde krank gewordenoder bereits verstorben. Die früheren regelmäßigen Treffen gab es schon seit Jahren nicht mehr. Das Gedächtnis der beiden Alten, einst messerscharf, war stumpf geworden. Aber wenn auch viele Erinnerungen allmählich verblassten, die Zeit, die sie gemeinsam in den Wüsten Nordafrikas verbracht hatten, stand ihnen so deutlich vor Augen, als sei es gestern gewesen. Während sie nun ihren Whisky schlürften und an übelriechenden Pfeifen sogen, erwachte sie vollends zum Leben. Geralds alte Geschichten brachten Chips auf gewagte Witze, die sie sich in den langen Tagen und Nächten erzählt hatten, da der Tod beinahe selbstverständlich war und Augenblicke wie dieser weit außerhalb ihrer Vorstellungswelt lagen.
»Hast du sie immer noch hier bei dir?«, fragte Chips nach dem dritten Whisky.
Gerald nickte.
»Ja, hier, wo sie immer waren.«
»Und wer kriegt sie, wenn du einmal nicht mehr bist?«
Gerald zuckte die Achseln.
»Weiß ich noch nicht. Hab nicht darüber nachgedacht. Vielleicht ein Museum?«
»Du weißt, dass wir das ausgeschlossen haben«, antwortete Chips und hob das Glas an die Lippen. Er war ein hochgewachsener Mann, schon etwas gebückt, aber drahtig, als hätten seine Muskeln an Kraft und Elastizität nichts eingebüßt.
»Und du?«, fragte Gerald. »Oder einer von den anderen?«
Chips zuckte die Schultern.
»Wir sind froh, dass du sie aufbewahrst. Aber du wirst immer älter – wie wir alle. Es ist an der Zeit, dass wir eine neue Möglichkeit finden. Das haben wir doch schon so oft besprochen. Wir müssen endlich zu Potte kommen.«
Gerald maß seinen alten Freund mit einem nachdenklichen Blick. So viele Jahre waren vergangen. Kaum zu glauben, wie nahe sie sich damals standen. Sie hatten immer zusammengehalten, alle miteinander, in den Schrecken des Krieges und in der trüben Nachkriegszeit. Jemand hatte sie einmal die Unbesiegbaren genannt. Aber als Leary von einer Tretmine getötet wurde, geriet der Name in Vergessenheit.
»Du meinst, heute Abend?«, murmelte Gerald. »Ich wollte eigentlich bis nach den Feiertagen warten. Bis alle anderen weg sind. Vielleicht kommt Donaldson doch noch vorbei, möglicherweise auch Skinner. Ich habe beide eingeladen. Es kann sein, dass sie bei dem Schnee auf den Straßen nicht durchgekommen sind. Du hast Glück gehabt.«
Chips fuhr sich mit einer Hand über die Wangen. Als er jünger war, hatte er einen Bart getragen, ihn aber abrasiert, als er im mittleren Alter grau zu werden begann.
»Und das Mädchen?«, fragte er jetzt.
»Das Mädchen? Welches Mädchen?«
»Ach, tu doch nicht so. Das ich heute Abend hier gesehen habe. Du weißt genau, welches ich meine.«
Gerald nickte.
»Manchmal vergesse ich es schon. Es sind so viele gewesen. Aber sie ist kein Mädchen mehr. Sie ist jetzt eine erwachsene Frau. Das kann dir doch nicht entgangen sein.«
»Weiß sie von der Sache?«
Gerald goss ein wenig Wasser in sein Glas und trank es gierig aus. Seine Leber
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