Die zweite Kreuzigung
Alain-Fourniers verlorenem Land 1 .
»Tut mir leid, Großvater«, sagte er, als er im Bentham Room, dem zentralen Raum von Woodmancote mit seiner elisabethanischen Täfelung und dem beeindruckenden Kamin des Niederländers Grinling Gibbon, auf Gerald zuging. Das alte Gemäuer prangte im Festtagsschmuck. Girlanden aus Efeu, Stechpalme, Mistelzweigen und Wacholder mit schwarzen Beeren daran bedeckten, mit Hunderten goldener Glaskugeln geschmückt, die Wände. Der Kamin war mit Weihnachtsstrümpfen behängt. Überall im Raum standen auf kleinen Tischchen Flaschen mit hausgemachtem Schlehen-Gin, den Gerald wie jedes Jahr bereits vor einigen Monaten angesetzt hatte, um Wärme, Freude und Schwung in das Weihnachtsfest zu bringen.
»Ich hätte nicht übel Lust, dich übers Knie zu legen und dir den Hintern zu versohlen, junger Mann«, antwortete Gerald mit einem Augenzwinkern. Ethan wusste, wie unberechenbar sein Großvater war. An seinem späten Erscheinen nahm er zu Recht Anstoß. »Jedes Jahr das Gleiche. Du kommst als Letzter und gehst als Erster.«
»Du wirst dich doch nicht an einem Polizisten vergreifen wollen. Ich müsste dich glatt am Heiligabend festnehmen und ins Gefängnis stecken. Willst du das?«
Gerald gab ihm einen Klaps auf die Schulter. Heute war er in Feststimmung. Ethan lächelte ihm zu. Einen Jüngeren hätte er umarmt. Aber nicht seinen Großvater.
»Komm und lass uns einen Gin probieren«, sagte Gerald und zog ihn am Ärmel zu einem der Tische beim Kamin direkt neben der Weihnachtskrippe. »Er ist mir dieses Jahr besonders gut gelungen«, erklärte er. »Die Früchte sind größer und waren Wochen eher reif. Er ist gut durchgezogen. Das schmeckt man.«
Er schenkte seinem Enkel ein Glas ein und blickte ihn erwartungsvoll an. Ethan nippte an dem klaren Getränk und nickte beeindruckt. »Der ist wirklich gut«, meinte er und nahm einen kräftigen Schluck. »Genau das Richtige nach der Fahrt in der Kälte draußen.«
»Hatte ich dir nicht gesagt, du sollst deine junge Frau mitbringen?«
Den erhobenen Zeigefinger kannte Ethan von vielen vergangenen Weihnachtstagen. Warum hast du deinen Kumpel aus der Schule nicht mitgebracht? Wo ist deine Schwester? Wo hast du das Mädchen versteckt, von dem ich schon so viel gehört habe? Und wo ist deine Frau?
Ja, dachte Ethan, wo ist meine Schwester? Und wo ist meine Frau? Verse von Byron, die bei Abis Begräbnis erklungen waren, gingen ihm durch den Kopf:
Und du bist tot? – so schön und zart,
So selt’ne Lieblichkeit,
Wie je im Staub geboren ward,
Geknickt vor ihrer Zeit!
Schon bei Paulines Totenfeier hatte man diese Verse gesprochen. Seine zwei Jahre jüngere Schwester war mit fünfzehn an Leukämie gestorben. Bevor sie krank wurde, hatte sie jeden, der sie sah, in Entzücken versetzt. Eine große Zukunft wurde ihr prophezeit. Die hatte sie mit ins Grab genommen, das nun ein Stein mit ihrem Namen zierte.
Ethans Frau Abigail war fünfundzwanzig gewesen, als sie starb. Das lag jetzt acht Jahre zurück. Er war damals gerade dreißig geworden. Nun ging er schon auf die vierzig zu, aber wenn er morgens erwachte oder abends Schlaf zu finden suchte, war der Schmerz immer noch unerträglich. Dann bohrte sich der Gedanke an sie durch sein Hirn wie ein Wurm, der kein Ende hat.
»Ich habe keine junge Frau, Großvater.«
Gerald runzelte die Stirn.
»Ich nahm an …«
»Da liegst du falsch. Frauen bleiben nicht lange bei mir. Sie meinen immer, ich sei mit meinem Job verheiratet.«
»Ein Mann braucht eine Frau, Junge. Das müsstest du doch allmählich wissen. Selbst nach dem schrecklichsten Einsatz in der Wüste war unser erster Weg immer in den Puff, wenn wir zurückkamen. Oder wir verbrachten eine Nacht mit einem Mädel vom MTC 2 . Die musste man nicht unbedingt lieben, weißt du?«
Ethan lächelte und sagte nichts. Frauen hatten seinen Großvater immer sehr beschäftigt. In den vierzig Jahren seiner Ehe mit Edith hatte es stets irgendwo eine befreundete Dame gegeben. Als Edith vor fünfzehn Jahren starb,vergab sie ihm alle seine Sünden. Es hieß, er habe seitdem keine Frau mehr angerührt.
Einer der Enkel, dem Aussehen nach ein Ellis, schlenderte herbei und zog Gerald mit sich fort. Ethan blieb allein bei der Krippe zurück, einem hübschen Stück Kunstgewerbe mit italienischen Figuren. Dort fand ihn sein Vater und schleppte ihn zu der Horde Tanten und Cousinen, die er zur Hälfte noch nie im Leben gesehen hatte. Nach dem Abendessen wurden die
Weitere Kostenlose Bücher