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Die zweite Kreuzigung

Die zweite Kreuzigung

Titel: Die zweite Kreuzigung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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machte ihm neuerdings Ärger. Doktor Burns hatte ihm geraten, mit harten Getränken vorsichtig zu sein. Er schüttelte den Kopf.
    »Nein«, antwortete er. »Noch nicht. Ich habe ihr bishernichts gesagt. Sie ist noch nicht so weit. Wenn die Zeit kommt, spreche ich mit ihr, alter Junge. Das weißt du.«
     
    Die Wangen gerötet, das Haar von Reif bedeckt, der Atem im Lampenlicht eine gefrorene Wolke, so kehrten die Gäste nach Woodmancote Hall zurück. Sie kamen in Gruppen zu zweien und dreien, lachend oder in ernste Gespräche vertieft, allesamt vom Geist der Weihnacht erfüllt. Ethan begleitete immer noch Sarah, die sich fest an seinen Arm klammerte, weil sie fürchtete, in den hohen Stiefeln auszugleiten, in die sie wegen des Schnees geschlüpft war. In ihrem Kopf hallten die Choräle wider, und ihre Lippen waren blaugefroren. Sie redete viel, antwortete auf seine Fragen und stachelte seine Neugier an. Sie sprachen über Bücher, Filme und Reisen, über Eltern und Verwandte. Dabei stellten sie fest, dass sich ihre Wege schon mehrmals beinahe gekreuzt hätten. Es war noch zu früh, um über seine verstorbene Frau zu sprechen oder ihren Bruder, der mit einundzwanzig Jahren in eine Nervenklinik gekommen war und diese wohl nicht mehr verlassen würde. Ein Instinkt, aus Ungemach oder Gewissen entstanden, sagte ihnen, dass sie dafür noch Zeit haben würden.
    Im Hause angekommen, wurde viel geschnauft, gehustet und mit den kalten Füßen gestampft. Schneebrocken fielen auf Fußmatten, wo sie bald zu Wasserlachen schmolzen.
    Im Salon hatte Senhora Salgueiro warme
Mince Pies,
das süße Weihnachtgebäck, und Glühwein bereitgestellt. Die Erwachsenen drängten sich um die Tische, hungrig von der Kälte und der Anstrengung, so lange auf dem steinernen Fußboden der Kirche gestanden zu haben. Die größeren Kinder, die sie begleitet hatten, wurden auf ihre Zimmergeschickt, wo Süßigkeiten, Ingwerbier, gefüllte Weihnachtsstrümpfe und ein unruhiger Schlaf sie erwarteten.
    Die Erwachsenen, weniger erregt von der Erwartung großer Ereignisse, waren vom Alter, dem üppigen Essen und der späten Stunde stärker beansprucht als ihre Sprösslinge. Zugleich fühlten sie sich durch den glitzernden Weihnachtsbaum in so eleganter Umgebung und – jedenfalls für die meisten – angenehmer Gesellschaft zu nostalgischen Gedanken angeregt. Sie wären gern schlafen gegangen, wollten aber diesen besonderen Abend noch ein wenig auskosten. Doch einer nach dem anderen musste den ungleichen Kampf bald aufgeben.
    Ethan brachte Sarah zu ihrem Zimmer hinauf.
    »Danke, Ethan«, sagte sie. »Du warst sehr nett zu einer armen Verwandten.«
    »Sarah«, ermahnte er sie sanft, »ich bin Polizist, kein Bankier.«
    »Das mag ja sein. Aber ich bin Wissenschaftlerin. Das bedeutet, ich bin arm wie eine Kirchenmaus.«
    Zum ersten Mal erwähnte sie, was sie beruflich tat.
    »Das wusste ich nicht.«
    »Ich habe erst vor einigen Jahren promoviert und arbeite jetzt als kleine Lehrkraft mit trüben Karriereaussichten. Wenn ich Glück habe, bekomme ich mit fünfzig vielleicht eine Dozentur. Aber mit deiner Erlaubnis möchte ich nun zu Bett gehen. Um ehrlich zu sein: Ich werde gleich tot umfallen. Dir geht es doch sicher genauso. Den Weihnachtsmann werden wir dann allerdings wohl verpassen.«
    Er beugte sich zu ihr hinab und küsste sie sanft auf die Wange. Sie errötete leicht, wünschte ihm rasch eine gute Nacht und verschwand hinter ihrer Tür.
     
    Ob der weißbärtige Alte in dieser Nacht tatsächlich kam, ist nicht bekannt, denn das Haus wurde morgens gegen halb sechs vorzeitig geweckt. Die Ursache war ein gellender Schrei, gefolgt von weiteren Schreien, die nach und nach in heftiges Schluchzen übergingen. Dann war es wieder totenstill. Alle Gäste, außer jenen, die gerade im Tiefschlaf lagen, fuhren in ihren Betten hoch. Ethan war als Erster auf den Beinen und aus dem Zimmer.
    Die Schreie waren eindeutig nicht aus einem der Dachstübchen in seiner Nähe gekommen, sondern von weiter unten, wahrscheinlich aus dem ersten Stock. Nur in einem dünnen Morgenmantel und vor Kälte zitternd, eilte er die schmale Treppe hinunter. Hinter sich hörte er Türen klappen. Im ersten Stock herrschte bereits große Aufregung. Einige Zimmertüren standen weit offen, und ein halbes Dutzend Gäste, alles Männer in Pyjama oder Morgenmantel, umringten eine schluchzende Frau. Senhora Salgueiro, Lockenwickler in den Haaren und in einen wattierten Morgenrock gehüllt, wurde von

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