Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
an Greers Abschiedsworte: Die Welt da draußen ist verändert. Das stimmte, das wusste Peter, aber es kam ihm nicht so vor. Allenfalls war die Welt mehr sie selbst. Hier waren die gefrorenen Felder, ein endloses, windstilles Meer. Da war der unermessliche Sternenhimmel. Dort war der Mond mit seinem gelben Auge unter dem schweren Lid. Alles war, wie es gewesen war und wie es weiterhin sein würde, wenn sie längst nicht mehr da wären, wenn ihre Namen und Erinnerungen und alles, was sie einmal gewesen waren, wie ihre Knochen zu Staub zerrieben und fortgeweht wären.
Er hörte ein Geräusch hinter sich. Sara trat aus der Tür. Sie trug Kate auf der Hüfte. Das Kind schaute mit offenen Augen umher. Sara kam heran. Ihre Stiefel knirschten im Schnee.
» Kannst du nicht schlafen?«, fragte er.
Sie verzog entnervt das Gesicht. » Glaub mir, ich könnte. Es ist meine Schuld. Ich habe sie unterwegs zu lange schlafen lassen.«
» Hi, Peter«, sagte Kate.
» Hi, Süße. Gehörst du nicht ins Bett? Wir haben morgen wieder einen langen Tag, weißt du.«
Sie presste trotzig die Lippen zusammen. » M-mm.«
» Siehst du?«, sagte Sara.
» Soll ich sie dir eine Weile abnehmen? Das kann ich, weißt du.«
» Was, hier draußen, meinst du?«
Peter zuckte die Achseln. » Ein bisschen frische Luft, und sie ist bald müde. Ich könnte Gesellschaft gebrauchen.«
Als Sara nicht antwortete, fuhr Peter fort: » Keine Sorge, ich passe auf. Was meinst du dazu, Kate?«
» Bist du sicher?«, fragte Sara.
» Natürlich. Ich habe doch sonst nichts zu tun. Und sobald sie schläfrig wird, bringe ich sie hinein.« Er lehnte sein Gewehr an die Wand und streckte die Arme aus. » Komm, gib sie schon her. Ein Nein akzeptiere ich nicht.«
Sara gab nach und schob Kate von ihrer Hüfte zu Peter hinüber. Das kleine Mädchen schlang die Beine um ihn und packte den Kragen seines Parkas mit den Fäusten, um das Gleichgewicht zu halten.
Sara trat einen Schritt zurück und betrachtete die beiden. » Ich muss sagen, das ist eine Seite von dir, die ich noch nicht gesehen habe.«
Er merkte, dass er lächelte. » Fünf Jahre. Da kann sich vieles ändern.«
» Na, es steht dir.« Sie gähnte plötzlich. » Aber wenn sie dir lästig wird…«
» Wird sie nicht. Gehst du jetzt endlich? Schlaf ein bisschen.«
Sara verschwand. Peter ließ sich auf den Stuhl sinken, nahm Kate auf den Schoß und drehte sie zum Winterhimmel um. » Worüber möchtest du dich unterhalten?«
» Weiß nicht.«
» Du bist überhaupt nicht müde?«
» Nein.«
» Wollen wir Sterne zählen?«
» Das ist langweilig.« Sie rückte sich bequem zurecht und befahl: » Erzähl mir eine Geschichte.«
» Eine Geschichte. Was für eine?«
» Eine Es-war-einmal-Geschichte.«
Er wusste nicht genau, wie er anfangen sollte, denn so etwas hatte er noch nie getan. Aber als er über die Bitte des Mädchens nachdachte, durchflutete ihn ein Strom von Erinnerungen an die Tage, als er zu den Kleinen in der Zuflucht gehört und mit den anderen Kindern im Indianersitz im Kreis gesessen hatte. Er sah die Lehrerin vor sich, mit ihrem blassen Mondgesicht und den Geschichten, die sie erzählt hatte: von sprechenden Tieren, die Westen und Röcke getragen hatten, von Königen in ihren Schlössern und von Schiffen, die auf der Suche nach Schätzen über das Meer gefahren waren. Er spürte wieder die einschläfernde Wirkung der Worte, die durch ihn hindurchgingen und ihn in ferne Welten und Zeiten trugen, als verlasse er seinen Körper. Es waren Erinnerungen an eine andere Zeit, ein anderes Leben, so fern, dass sie ihm uralt erschienen. Aber als er jetzt mit Saras Tochter auf dem Schoß in der Winterkälte saß, waren sie ein Teil von ihm. Er empfand leise Reue: Noch nie hatte er Caleb eine Geschichte erzählt.
» Also.« Er räusperte sich und versuchte, Zeit zu schinden, um seine Gedanken zu ordnen. Aber in Wahrheit fiel ihm nichts ein. Alle Geschichten aus seiner Kindheit waren plötzlich aus seinem Gedächtnis verschwunden. Er würde improvisieren müssen. » Mal sehen…«
» Ein Mädchen muss darin vorkommen«, sagte Kate hilfsbereit.
» Kommt ja.« Er lächelte. » Ich wollte gerade anfangen. Also, es war einmal ein Mädchen…«
» Wie sah sie aus?«
» Hmmm. Na ja, sie war sehr hübsch. Tatsächlich hatte sie viel Ähnlichkeit mit dir.«
» War sie eine Prinzessin?«
» Lässt du mich jetzt erzählen oder nicht? Aber jetzt, wo du es sagst– ja, sie war eine. Die schönste Prinzessin,
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