Diebe
die Schnürsenkel zubinden wollte, und zieht einen Geldschein aus ihrem Turnschuh. Dann kauft sie zwei schlichte T-Shirts, eines für sich und eines für Demi, und steckt die inzwischen ganz zerdrückte und schweißverklebte Schmuckschachtel unauffällig in die Papiertüte, die ihr der Standbesitzer für die T-Shirts gegeben hat. Fay wird ihr wegen dem bisschen Geld, das sie dafür ausgegeben hat, nicht böse sein, schon gar nicht, wenn sie sieht, was sie ihr mitgebracht haben. Zusätzlich holt sie sich noch ein paar Tomaten und zwei Äpfel, stopft sie obenauf in die Tüte und spaziert dann gemächlich über den Agua-Platz.
Dieser breite, staubige Platz hat wenig zu bieten außer Verkehr und ein paar schäbigen Läden, in denen billige Koffer verkauft werden. In der hinteren Ecke steht ein Brunnen, der manchmal funktioniert und manchmal auch nicht. Dort würde Demi vielleicht auf sie warten, dachte Baz. Aber Demi ist nirgends zu sehen. Baz macht sich deswegen keine Gedanken. Wenn er nicht da ist, wird er wahrscheinlich im Barrio bei Mama Bali sein, eine Cola schlürfen, Däumchen drehen und sich fragen, was für eine Kostbarkeit in der Schachtel steckt.
Er darf ruhig ein bisschen warten – den schweren Teil der Arbeit hat diesmal sie erledigt. Schließlich wird man nicht jeden Tag auf diese Art und Weise gejagt und muss dann durch die halbe Stadt rennen. Sie legt die Tüte vorsichtig auf den Brunnenrand, schaufelt etwas von dem Schaum auf der Wasseroberfläche beiseite und taucht beide Hände bis zum Gelenk ein. Trotz der Hitze ist das Wasser kühl und tut ihrer Haut gut. Es gibt noch einen anderen Grund, weshalb sie sich Zeit lässt. Die kleinen, gewundenen Gassen, die auf dieser Seite vom Agua-Platz abgehen, führen ins Zentrum des Barrio, und hier kommen und gehen ständig Leute, die ihre Augen überall haben. Wenn sie sehen, dass man es eilig hat und ein Grinsen im Gesicht trägt, wollen sie wissen, warum. Man lässt es also besser locker angehen, ganz gemächlich, als wäre es ein Tag wie jeder andere, glühend heiß und sonst nichts. Heute allerdings ist es doch ein bisschen anders, und so denkt sie an die Schachtel unter den Tomaten, überlässt sich ihrer Fantasie und malt sich ein kleines goldenes Armband aus oder ein Paar Ohrringe oder eine schöne Halskette mit einer geisterfarben schimmernden Perle oder einem grünen Edelstein, einem Smaragd ... Was immer es ist, es wird etwas sehr Schönes sein, das weiß sie einfach, etwas so Schönes, dass Fay lächeln und dann sie und Demi lachend umarmen wird. Das hat Fay schon sehr lange nicht mehr getan.
Erfrischt steht sie auf, schnappt sich die Tüte, holt einen Apfel heraus und beißt hinein. Dann blickt sie verstohlen über die Schulter, vergewissert sich, dass niemand ihr folgt, und betritt das Barrio. Die Straßen und Gassen haben hier keine Namen, keine Straßenkarte zeigt einem den Weg. Wer nicht hergehört, meidet den Ort. Wen würde es auch hierherziehen? Das Barrio ist ein Labyrinth, ein düsterer Irrgarten voll stinkendem Müll, offenen Abflusskanälen und baufälligen Häusern, die so vielfach aufgeteilt sind, dass jeder kleine Winkel, sogar das Treppenhaus, irgendeiner Familie als Quartier dient. Es gibt hier Bretterverschläge und -käfige, einer über den anderen geschichtet, in denen die Menschen wie Tiere in einem Zoo leben, nur dass die Tiere im Zoo normalerweise etwas Platz haben, sich zu bewegen. Hier nicht, dem Barrio hat man jedes bisschen Platz ausgequetscht. Schuppen thronen auf flachen Dächern, kleine Brücken aus Metallresten und sonstigem Schrott strecken sich vom einen Obergeschoss hinüber zum anderen, und über die Gassen ziehen sich Drahtgeflechte, in denen sich der Abfall verfängt. Wenn der Sonnenschein durch so ein Geflecht dringt, dann zerfällt das Licht in einzelne Tropfen, und das sieht, so komisch es klingt, richtig hübsch aus.
Manchmal denkt Baz, ein Riese ist in die Stadt gekommen und hat sich ein ganzes Viertel gepackt, das er nicht mochte, vielleicht weil es so arm war, dass er dort nichts zu essen auftreiben konnte, und hat alles in die Luft geworfen, und als es dann wieder herunterfiel, war es ein einziges Kuddelmuddel und wurde zum Barrio. Aber vor allem hat man das Gefühl, dass es nicht genug Luft zum Atmen gibt oder Licht, um etwas zu sehen. Der Ort ist eine Falle: Menschen von draußen ziehen ins Barrio, aber keiner zieht wieder weg.
Baz kann sich noch daran erinnern, wie sie von ihrer ersten Unterkunft
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