Dieser eine Moment (German Edition)
berühren.
»Da sind kleine Steine in der Wunde«, sagt sie, »ich brauche eine Pinzette.«
Er zuckt hilflos mit den Schultern.
»Die müssen raus«, sagt sie, über seine verletzten Knie gebeugt, »sonst entzündet sich das.«
Sie beginnt zu suchen. Auf der Ablage über dem Doppelwaschbecken. Das rechte für seinen Vater, das linke für seine Mutter. Die Handtücher haben dieselbe Farbe wie die Fliesen, ein warmes Gelb. Ein Bad muss Wärme ausstrahlen, meint seine Mutter. Seinem Vater ist das egal.
Er betrachtet Laura im Spiegel. Eine Haarsträhne fällt ihr ins Gesicht, sie streicht sie sich hinters Ohr, beiläufig, während sie zwischen dem Nassrasierer seines Vaters und der Augencreme seiner Mutter nach einer Pinzette sucht. Sie ist sofort gekommen. Ihre Eltern gehen früh ins Bett, es war nicht schwer, sich unbemerkt aus dem Haus zu schleichen.
»Das wird jetzt noch mal wehtun«, sagt sie, als sie fündig geworden ist. Er schließt seine Augen und wartet auf den Schmerz.
Der junge Mann auf der Landstraße schien unverletzt zu sein. Bis auf die Schnittwunden in seinem Gesicht und den verdrehten Fuß. Vielleicht hat er ihn sich durch die Wucht des Aufpralls unter einem der Pedale eingeklemmt.
Laura zieht ein blutiges Steinchen aus seinem rechten Knie. Er öffnet die Augen.
»Geht’s?«, fragt sie.
»Ich halt das schon aus«, sagt er.
Sie legt den Steinsplitter auf den Rand der Badewanne.
Die schmerzhaften Stiche in seinem Fleisch beruhigen ihn irgendwie. Die konzentrierte Stille, in der Laura Steinchen für Steinchen aus seinen Wunden zieht. Die Entschlossenheit ihrer Bewegungen, die Erschöpfung in ihrem Blick, als sie das letzte Stück auf dem Badewannenrand ablegt.
»Sieben«, zählt er. Genau wie die Sommersprossen auf ihrer Nase.
»Da sind noch mehr«, sagt Laura und nimmt sich sein anderes Knie vor. Er schaut ihr stumm zu. Als wäre das weder sein Knie noch sein Schmerz.
Ihr Blick in seine Augen, als er in sie eindrang. Seine Angst, ihr wehzutun. Sie schlang ihre Beine um ihn, als wolle sie ihn nie mehr loslassen. Ihre Hand in seinem Haar, als sie ihn zu sich zog, den Mund leicht geöffnet. Seine Beklommenheit, die sich zwischen ihren Lippen auflöste. Das knirschende Geflecht der Strandkörbe, das Kreischen der Möwen. Und die ganze Zeit über diese Zweifel in seinem Kopf, trotz allem, als verdiene er nicht, mit ihr zusammen zu sein.
Er sieht den Wagen vor sich, hört die Stimme des Mannes, der hinter ihm herschreit. Er hätte ihm helfen müssen. Seine Feigheit schmerzt schlimmer als die Steinsplitter, die Laura aus seinen Wunden zieht.
»Bin gleich fertig«, sagt sie.
»Und wenn sie tot ist?«, fragt er.
»Wer?«
»Die Frau in dem Auto.«
»Warum soll sie tot sein?«
»Ich weiß nicht«, sagt er. »Kann doch sein.«
»Jetzt hör schon auf«, sagt sie und tupft Jod in die Wunde. »Habt ihr Verbandszeug?«
»Da oben«, sagt er, »in dem Schrank da.«
Laura reißt die Schutzhülle von den Mullbinden, fixiert sie mit Heftpflasterstreifen auf seinen Knien.
»Das war’s.« Sie lächelt.
»Was ist?«, fragt er.
»Ich hab Hunger«, sagt sie.
Schrankfronten aus geöltem Nussbaum, ein Backofen, der sich nach Benutzung selbst reinigt, ein Einbaukühlschrank mit Null-Grad-Zone. Seinem Vater war das alles zu teuer, seine Mutter hatte leuchtende Augen. Wie oft kauft man sich schon eine neue Küche?
Der Duft des gebratenen Fleisches lässt Jan für einen Augenblick glauben, alles sei gut. Er schaut Laura beim Essen zu. Ihre Stirn ist gekräuselt. Wie Wasser, über das der Abendwind streicht. Beim Kauen bilden sich kleine Grübchen in ihren Wangen.
Wieso ich, denkt er, wieso nicht einer von den anderen?
»Du schaust mich an, als ob du Angst vor mir hättest«, sagt sie.
»Ich weiß nicht«, sagt er, »vielleicht.«
Sie legt ihre Hand auf seine, streicht mit den Fingern sanft über die dunkelblonden Haare auf seinem Unterarm.
»Ich bin dein erstes Mal, hab ich recht?«
»Ja«, sagt er, »bist du.« Er betrachtet ihre Finger, die über seine Handknöchel wandern. Ihre Fingernägel sind länger als seine.
»Bist du deswegen so schnell abgehauen?«
Er antwortet nicht. Auf seinem Teller liegen die Reste des Schnitzels. »Was soll denn jetzt werden?«, fragt er.
»Mit uns?«
»Nein«, sagt er, »nicht mit uns.«
»Lass das«, sagt sie, »das bringt nichts.«
»Ich kann nicht«, sagt er. »Das rast durch meinen Kopf, immer und immer wieder.«
»Ist doch kein Wunder«, sagt sie.
Er
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