Dieser eine Moment (German Edition)
schaut sie an. Sie gibt sich Mühe, das spürt er. Sie versucht, ihm zu helfen. Vielleicht liebt sie ihn wirklich, er weiß es nicht. Er weiß überhaupt nicht, was das ist: Liebe. Er merkt, dass er wütend wird. Nicht auf sie. Sie kann nichts dafür. Aber er fühlt die Verunsicherung in ihren Fingerspitzen auf seinem Unterarm, er sieht es ihr an. Sie bezieht das auf sich, natürlich, ihm ginge es an ihrer Stelle ebenso, dabei hat es nichts mit ihr zu tun. Vielleicht ist es genau das, was man Schicksal nennt. Die Unvereinbarkeit zweier Gefühle.
Er schlägt mit der Hand auf den Tisch. Das Besteck klirrt auf den Tellern. Das Jod auf seinen Handinnenflächen hinterlässt einen rötlich braunen Abdruck auf dem Tischtuch. Wie soll er das seiner Mutter erklären?
Laura schaut ihn erschrocken an. Sie hat Angst. Er kann das deutlich spüren. Seine Angst ist von ihm auf sie übergesprungen.
»Tut mir leid«, sagt er, »ich hab die Nerven verloren.«
Sie senkt den Kopf. Ihre Finger spielen mit dem Saum des Tischtuchs. Der Abstand zwischen ihnen vergrößert sich mit jedem Atemzug. Zwei Leben, die in entgegengesetzten Richtungen aneinander vorbeirasen und sich in der Unendlichkeit verlieren.
»Das ist alles zu viel«, sagt er, »ich krieg das einfach nicht auf die Reihe.«
Laura blickt auf, ihre Augen füllen sich mit Tränen, ihr Mund ein dünner Strich.
»Nicht«, sagt er. »Bitte!«
Ihre Hände liegen bewegungslos neben seinem Handabdruck auf der Tischdecke. Er hat das Gefühl zu platzen. Der Druck ist unerträglich. Er räumt die Teller in die Spüle, dreht den Wasserhahn auf, spült mit dem Strahl das Fett ins Becken, beobachtet, wie sich die braunen Spuren auf dem weißen Porzellan langsam im fließenden Wasser auflösen. Ein unmerklicher Blick zu Laura. Die Tränen in ihren Augen laufen über. Er dreht den Wasserhahn zu, starrt hinaus in die Nacht. Als wäre die Welt ein Vakuum. Als hätte jemand die ganze Luft aus der Welt gesaugt und ins All geblasen, hinaus ins Nichts.
Er will sich zu ihr umdrehen, aber er kann nicht. Das Nichts da draußen hält ihn fest. Er bemerkt, dass seine Hände den Rand der Spüle umklammern. Seine Fingerknöchel sind schon ganz weiß.
»Ich muss zur Polizei«, sagt er. Er spürt, wie sie erstarrt. Gefrorene Tränen, luftleere Stille.
»Nein«, sagt sie.
»Es gibt keine andere Lösung.«
»Nein«, wiederholt sie.
Er schaut in das Edelstahlbecken vor sich.
»Du kannst nichts dafür«, sagt sie, »es hat geregnet wie verrückt, du hast das Auto zu spät gesehen.«
»Ich hab gar nichts gesehen«, sagt er leise, »nur dich.«
»Der Typ ist zu schnell gefahren«, beharrt sie, »sonst wäre er doch nicht gegen einen Baum geknallt.«
»Hör auf«, sagt er, »bitte!«
»Was hast du davon?«
Ihr Atem in seinem Nacken. Er dreht sich langsam zu ihr um, starrt sie an, als würde er ihre Frage nicht verstehen.
»Noch mal«, sagt sie, »was hast du davon?«
In ihrem Blick liegt eine Entschlossenheit, die er nicht kennt an ihr. »Ich liebe dich«, sagt sie. Ihre Stimme wird weich. »Ich weiß nicht warum, aber ich liebe dich.«
Deine Augen, denkt er, tief wie das Meer.
Er hat immer nur zugeschaut. Dem Leben der anderen, das nicht seins war. Erst in der Schule, dann im Betrieb.
Er macht eine Lehre zum Anlagenmechaniker. Ein mittelständisches Unternehmen in einem Industriegebiet. Heizungsanlagenbau. Dreißig Mitarbeiter, vier Lehrlinge. Als er den Ausbildungsvertrag unterschrieb, hat sich sein Vater mit dem Meister über alte Zeiten unterhalten und wie viel einfacher damals alles war.
Jan kann sich nicht daran erinnern, dass irgendetwas einfach war. Sein Vater hat immer geschuftet bis zum Umfallen. Tagsüber für seinen Chef, nach Feierabend schwarz. Der Traum von der eigenen Firma war ihm wichtiger als seine Familie. Heizung und Sanitär, Installation und Wartung. Er hat es geschafft. Jetzt beschäftigt er zwei Angestellte, Jans Mutter macht die Buchhaltung, das Lager ist noch immer in der Garage untergebracht. Nach Abschluss seiner Ausbildung soll Jan bei ihm anfangen und nebenbei seinen Meister machen. Irgendwann soll er die Firma übernehmen, das ist der Plan. Ein Plan, der nichts mit ihm zu tun hat. Die Welt seines Vaters, die nicht seine ist. Er hasst die Lehre, das Kreischen der Sägen, wenn die Rohre zurechtgeschnitten werden. Er hasst es, mit auf Montage zu müssen, Wände aufzustemmen, auf Baustellen zu frieren. Er hasst das Gedudel des Radios im Pausenraum, die schalen,
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