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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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Gesicht scheinen lassen.« Wenn sie ihn noch einmal anschnalzte, würde er ihren Stuhl nehmen und ihn aus dem Fenster werfen. Mit ihr darauf.
    Schon im nächsten Moment schämte er sich. Warum konnte er nicht barmherziger sein?
    Er lehnte den Kopf an den Fensterrahmen und konzentrierte sich, so gut er konnte, auf den dicken Stapel Partituren hinter sich. Mahlers Fünfte; denk an Mahlers Fünfte! Im Geist schlug er den steifen grünen Umschlag auf und betrachtete die erste Seite.
    Augenblicklich war sie da, fing ihn auf, bremste seinen Fall. Die tiefen wiederholten Töne der Trompete – voller Hoffnung oder schrecklicher Vorahnungen? In der drängenden Blechbläserstimme waren beide Möglichkeiten angelegt. Hoch zur Mollterz und weiter zur Oktave, dann die Abwärtsbewegung, das wiederholte Fallen, das erneute Steigen. Und schließlich der Sturz! Jener wunderschöne, allumfassende, volle und weltliche Klang , der alles aussperrte, kritische Mienen wie marschierende Füße, unheilvolle Nachrichten, Schuld und Angst. Alles weg, weg ...
    »Was?« Undeutlich hörte er jemanden reden. Er drehtesich um, doch die Brise vom Fenster war noch in seinem Haar, und Mahler toste in seinem Kopf wie das Meer. Er sah, dass sich der Mund seiner Mutter bewegte, hörte jedoch nichts als die Trompete, deren Blechregen auf das bestickte Tischtuch prasselte. Seine Hände hatten sich vom Fenstersims aufgeschwungen, fuhren durch die Luft, formten, was er hörte.
    »Was hast du gesagt?«, fragte er benommen.
    »Ich sagte ...« Die Stimme seiner Mutter kam aus weiter Ferne. Doch gerade als die Geigenmelodie einsetzte, süßer als die Nachtigall, kehrte er in sein reales Leben zurück: eingesperrt in das vordere Zimmer der Wohnung, gezwungen, seiner hinfälligen Mutter zuzuhören. Er schloss das Fenster vor dem Wind und den Möglichkeiten all dessen, was jenseits der Stadt lag – Orte, die er nie gesehen, Musik, die er nie gehört hatte –, und wandte sich mit geübter selbstauferlegter Höflichkeit seiner Mutter zu.
    »Ich habe dich gerade gefragt«, sagte sie, »ob du nicht allmählich über Kinder nachdenken willst? Du bist kein junger Mann mehr, hast die Fünfunddreißig schon überschritten. Und bevor die Deutschen oder die Engländer diese Welt in Stücke sprengen, würde ich gern noch ein Enkelkind mit dem lieben Gesicht deines Vaters zu sehen bekommen.«
    »Mutter«, wandte er ein, »ich habe doch noch gar keine Frau. Nicht die Spur davon.«
    Sie winkte ab. »Aber im Orchester gibt es bestimmt reichlich Mädchen, die nach einem ansehnlichen Mann Ausschau halten. Eine nette Bratschistin vielleicht oder eine hübsche Flötistin?« Plötzlich hielt sie besorgt inne. »Aber vielleicht eignen sich Musikerinnen gar nicht so gut als Ehefrauen. Sie können launisch sein, habe ich mir sagen lassen.«
    Elias sah seine Chance. »Ja, das sind sie allerdings – vor allem wenn ich zu spät zur Probe komme. Welche Frau könnte einen Mann lieben, der nicht pünktlich ist?«
    »Da hast du recht!« Frau Eliasberg rollte mit ihrem Stuhl über den unebenen Boden und nahm seine Handschuhe vom Musikschrank. »Zieh dich an! Verschwende deine Zeit nicht mit mir.«
    Elias ließ sich die Handschuhe geben. »Komm, ich schiebe deinen Stuhl hier ans Fenster. Blendet dich die Sonne?«
    »Nein, nein!« Seine Mutter verscheuchte ihn. »Es ist alles bestens so. Wenn du mir auf dem Weg nach draußen meinen Nähkorb geben würdest, kann ich schon mal anfangen, deine Socken zu stopfen. Löcher in den Strümpfen sind keine gute Voraussetzung für die Brautwerbung.«
    Den ganzen Weg die vier finsteren Stockwerke hinunter und zur Haustür hinaus behielt Elias exakt das gleiche Tempo bei, wie ein Soldat, Kopf hoch, Füße geradeaus. An der Kreuzung, wo die Straßenbahnen klingelnd um die Ecke bogen, drehte er sich um und hielt schützend die Hand über die Augen. Er sah das weiße Taschentuch seiner Mutter aus dem Fenster flattern und hob seine schwere Aktentasche zu einer Art Gruß.
    Gleich hinter der Ecke beschleunigte er seine Schritte, ja fing fast an zu rennen. Würde, ermahnte er sich selbst, als er den Schweiß zwischen seinen Schulterblättern spürte. Die Würde muss um jeden Preis gewahrt werden. Da, gleich auf der anderen Straßenseite, war der Zeitungsstand. Elias sah nichts als den Stapel Zeitungen, der davor auslag.
    »Morgen.« Der Mann im Kiosk hatte eine hemdsärmelige, fast unverschämte Art. Der Stummel einer billigen Zigarette ragte ihm aus dem

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