Doener, Machos und Migranten
das Brautpaar auf die Tanzfläche. Nun kam der wichtigste Moment für die Familienoberhäupter, denn nun wurde öffentlich demonstriert, wie viel die Braut und der Bräutigam wert waren. Jeder, der Goldtaler oder Geldscheine an das Hochzeitskleid der Braut hängte, wurde per Mikrofon mit Namen und Verwandtheitsgrad genannt. Meine Mutter bekam von meinen Tanten zehn Goldarmbänder, eine Goldkette und einen Goldring. Das Gold durfte sie behalten, denn es sollte sie finanziell absichern. Das angesteckte Geld musste jedoch nach der Hochzeit sofort zum Begleichen der Kosten verwendet werden.
Später tanzten alle den «Halay», den türkischen Volkstanz, der bei keiner türkischen Hochzeit fehlen darf. Dabei fassen sich die johlenden Tänzer an der Hand oder Schulter und trampeln anschließend wie eine außer Rand und Band geratene Schafherde von links nach rechts. Der jeweils Letzte in der Kette der Tanzenden wedelt mit einem bestickten Taschentuch. Die Kapelle spielt dazu auf «Davul» und «Zurna», einer Rhythmuspauke und einer hölzernen Trompete. Beide Instrumente erklingen stets nur als unzertrennliches Paar. Alle Gäste, die beim «Halay» mitmachen, müssen bis zum Ende durchhalten. Hält nur einer der Tänzer die komplizierte Schrittkombination nicht ein, die immer schneller wird, geraten alle in der Kette aus dem Tritt – mit fatalen und oft auch schmerzhaften Folgen, denn dann fallen Tänzer übereinander. Wenn ich auf einer türkischen Hochzeit bin, hoffe ich jedes Mal, um diesen Tanz herumzukommen. Doch garantiert stürzt sich irgendeine türkische Bekannte auf mich und zerrt mich am Arm auf die Tanzfläche. Alles geschieht so schnell,dass mir keine Wahl bleibt und ich auch nicht lange nachdenken kann, denn ich muss mich auf die Tanzschritte konzentrieren.
Für Außenstehende aus dem westlichen Kulturkreis dürfte leicht der Eindruck entstehen, dass diese Verheiratung sowohl meinen Vater als auch meine Mutter ziemlich unglücklich gemacht haben muss. Es war ja schließlich keine Liebesehe. Doch wie fühlten sie sich selbst? Meine Mutter war glücklich darüber, nicht mehr unter der sozialen Kontrolle meiner Oma zu stehen. Zudem hatte sie das Glück, mit einem modern und fortschrittlich denkenden Türken verheiratet worden zu sein, der ihr viele Freiheiten ließ, die sie als unverheiratetes Mädchen nicht hatte. In patriarchalischen Gesellschaften steigt man durch seine Heirat in der Hierarchie eine Stufe höher. Eine Frau ist schließlich kein Mädchen mehr. Mein Vater sah es als guter und frommer Moslem als seine Pflicht an, verheiratet zu werden, und freute sich nun darauf, eine Familie zu gründen. Mittlerweile sind meine Eltern über vierzig Jahre verheiratet und bedauern die hohe Scheidungsrate bei den vornehmlich geschlossenen Liebesehen. Eigentlich ein Widerspruch.
Kurz vor der Hochzeit eröffnete mein Vater einen kleinen Kiosk im Istanbuler Stadtviertel Koca Mustafa Pasa, in dem meine Eltern nach der Hochzeit gemeinsam mit meiner Tante und ihrem Mann lebten. Der Kiosk, in dem mein Vater Getränke und typische türkische Knabbereien wie Pistazien, geröstete Mandeln, Körner usw. verkaufte, lief gut. Das kleine Ladenlokal bestand aus einem einzigen, etwa 3 x 4 m großen Raum, der bis unter die Decke mit Regalen ausgestattet war. In den Regalen gab es kleine Schubläden mit Sichtfenstern und Griffen. So konnten die Kunden sehen, welche Knabberei sich darin befand. Vor allem die Lage des Kiosks wirkte sich sehrvorteilhaft aus, denn er lag direkt neben einem Open-Air-Kino.
Im ersten Jahr ihrer Ehe wurde mein Bruder Ercan geboren und drei Jahre später kam ich in einem Privatkrankenhaus auf die Welt. Da es keine Krankenversicherungen gab, wurde in der Regel zu Hause entbunden. Nur wer es sich leisten konnte, ging in ein Krankenhaus, denn die Kosten musste er selbstverständlich allein tragen. Meine Mutter ging nach der Hochzeit keiner geregelten Arbeit mehr nach, sondern kümmerte sich tagsüber um den Haushalt und uns Kinder. Jeden Tag brachte sie meinem Vater ihre selbst zubereiteten Speisen in seinen Minikiosk. Dort platzierte sie meinen Bruder auf den Getränkeschrank und genoss die Zweisamkeit, für die im übrigen Alltag nicht allzu viel Zeit blieb. Mein Vater arbeitete an sieben Tagen die Woche jeweils 14 Stunden. Ein freies Wochenende gab es nicht, denn gerade wenn die anderen frei hatten, musste er seinen Kiosk geöffnet haben. In der Türkei diskutierten und diskutieren die Menschen nicht
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