Dom Casmurro
überzeugen, dass für das Scheitern der Ehe nicht er, sondern einzig und allein Capitu verantwortlich sei. Alles, was schiefgelaufen ist, geht in seiner Darstellung auf ihre Rechnung. Er hingegen, Bento, hat sich offenbar nichts vorzuwerfen. Und damit er selbst das glauben kann, soll es nach Möglichkeit auch der Leser glauben. Hinter dessen Annahmen könnte Bento sich dann zurückziehen und seine Gewissheit aus der des Lesers ziehen. «Mauvaise foi» , «schlechten Glauben», hat der französische Philosoph Jean-Paul Sartre solche mühsam zusammengesetzten Überzeugungen genannt.
Was Bento alles unternimmt, um den Zusammenbruch seines aus der Zeit geratenen Weltbilds zu verhindern – das ist das eigentliche Thema von Dom Casmurro . Um nichts anderes geht es Machado de Assis als um die Lebenslügen einer gesellschaftlichen Klasse, die genötigt ist, ihre Lebensweise und ihr Selbstverständnis aufzugeben, weil die Zeit über sie hinweggegangen ist. Und die raffinierten Schachzüge, die Bento, ohnmächtig und am Abend seines Lebens, zu diesem Zweck entwirft, zeigen, wie widerwärtig dieser Klasse der Gedanke ist, sich anzupassen – und wie widerwärtig auch die Vorstellung, fortan auf einer Stufe mit anderen, vermeintlich viel weniger distinguierten Familien zusammenleben zu müssen. Gegen solche Hochmut hat die unschuldig-romantische Liebe, die die Beziehung von Capitu und Bento zumindest zu Anfang ja durchaus prägt, keine Chance.
Was also wirklich geschah, ob Capitu Bento tatsächlich mit dessen bestem Freund betrog, wird der Leser nie erfahren. Machado, der gerissene Romancier, lässt es offen. Ebenso lässt sich aber auch die Vermutung, der Standesdünkel von Bentos Familie habe die Ehe auseinandergetrieben, nicht eindeutig belegen. Vieles spricht dafür – aber beweisen lässt es sich nicht. Eben das macht Machado de Assis’ Kunst aus. Mehr als über Fakten spricht er über die ihnen zugrundeliegenden möglichen Motive. Machado de Assis legt seine Landsleute auf die Couch. Und wie jeder Psychoanalytiker pflegt er äußerste Zurückhaltung: Die Protagonisten reden, der Autor bleibt im Hintergrund.
Umso besser kann der Leser Bento bei der Arbeit zuschauen, ihn beobachten, wie er ihn, den Leser, um den Finger zu wickeln versucht. Und so ist Dom Casmurro nicht zuletzt dieses: ein Buch über das Schreiben, ein sogenannter metafiktionaler Roman. Nicht umsonst ist das Werk in einem flatterhaften, unruhigen Stil geschrieben, zerteilt durch zahlreiche, oft sehr kurze Kapitel, die einen Gedanken nur anreißen, um ihn baldmöglichst wieder fallen zu lassen. «Nein, mein Gedächtnis ist wirklich nicht gut», erklärt Bento dem Leser. Aber ob dieser ihm glauben kann? Weiter könnte ihn die Frage führen, ob Bentos Gedächtnis wirklich nicht gut ist – oder vielmehr nicht gut sein soll. Denn wie alle, die vor Gericht, und sei es einem literarischen Gericht, etwas zu verbergen haben, beruft sich auch Bento immer wieder auf Erinnerungslücken. «In verwirrenden Büchern wird nichts richtiggestellt, in Bücher, in denen etwas vergessen wurde, kann man hingegen alles hineinlegen.» Bento, merkt der Leser, ist ein gerissener, ein hinterhältiger Erzähler. Trauen kann er ihm nicht.
Aber wie sollte man auch: Bento kann nicht einmal sich selbst trauen. Nicht nur dem Leser, auch sich selbst macht er etwas vor. Die Wahrheit ist womöglich zu peinlich und zu schmerzhaft, als dass sich ihr ins Auge sehen ließe. Und so versucht sich Bento einzureden, seine Ausführungen seien die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. «Wie viele böse Absichten mag es wohl geben, die auf halbem Wege in einen unschuldigen, reinen Satz münden! Man könnte fast meinen, die Lüge sei oftmals so unfreiwillig wie das Schwitzen.» Und das ist die eigentliche Leistung dieses Buches: Es zeigt, wie sehr man ins Schwitzen geraten kann, wenn man mit der Zeit nicht mithält. Dom Casmurro handelt von Krisen und Veränderung. Es erzählt von den Sorgen der Brasilianer am Ende des 19. Jahrhunderts. Und indirekt auch von denen, die sich heute, in Zeiten einer globalen Schuldenkrise, einstellen. Dom Casmurro ist ein Buch der Unruhe, der Angst.
Kersten Knipp
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