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Dornenkuss - Roman

Dornenkuss - Roman

Titel: Dornenkuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: script5
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Meter weiter weggehen zu lassen. Wenn ich allein blieb, würde ich anfangen zu begreifen, in welchem Größenwahn wir uns da gerade verirrten.
    Mit gerunzelten Brauen und unruhigen Händen dachten wir nach, suchten still nach Möglichkeiten und Ideen, nach Tricks, Selbstüberlistungen, Brücken und Wegen – bis ich begriff, dass wir sie einzeln nicht finden konnten.
    »Du musst mein U-Boot sein«, murmelte ich schließlich gedankenverloren.
    »Dein U-Boot? Bist du etwa schon auf einem Trip? Wieso denn U-Boot?«
    »Ich … ich hatte mal eine Phase in der Schule, in der es mir nicht sehr gut ging.« Phase war gut. Diese Phase hatte Jahre angedauert. Es war keine Phase, sondern ein Martyrium gewesen. »Ich hatte jeden Tag Angst vor dem, was mich erwartete. Gleichzeitig wusste ich, dass ich ihm nicht entrinnen konnte, dass es zu meinem Leben dazugehörte, sein musste. Ist das nicht pervers? Dass jedes Kind in die Schule muss, egal, wie sehr es das belastet?«
    »Ich dachte, du wärst immer eine Einserschülerin gewesen.«
    »War ich auch. Es war trotzdem furchtbar für mich. Und so unausweichlich … Wenn ich abends nicht einschlafen konnte, weil ich mich vor dem fürchtete, was unweigerlich kam und dessen Schattenseiten ich schon so gut kannte, hab ich mir vorgestellt, in einem U-Boot durch die Tiefsee zu gleiten. Ein U-Boot nur für mich alleine. Da war es warm und geborgen und mich umgaben dicke Panzerglaswände. Ich konnte mir die vielen bunten Fische ansehen und schlafen, wann ich nur wollte. Niemand konnte mich dort unten erreichen. Ich hatte zu essen und zu trinken …«
    »Hm«, machte Tillmann skeptisch. »Den Film Das Boot hast du nie gesehen, oder? Ein kuscheliges U-Boot … Mann, Ellie …«
    »Ich war neun oder zehn, sei nicht so streng! Dieses U-Boot schützte mich, kannst du das nicht verstehen?« Selbst jetzt, wo ich doppelt so alt war, hatte die Vorstellung etwas Bezwingendes. Ich musste an meine Begegnung mit der Qualle denken. Ja, dieses verschworene Treffen unter dem Meeresspiegel hatte sich gar nicht so weit weg von meinen U-Boot-Fantasien bewegt. Ich hatte mich umfangen und geschützt gefühlt, als ich sie beobachtet hatte. Wasser war schließlich das Element, das Tessa fürchtete.
    »Und du wolltest ganz allein in diesem U-Boot sein? Ohne andere Menschen?«
    »Ja. Ganz allein. Es hätte nur jemand zu mir kommen können, der mich wahrhaftig verstand und akzeptierte und, ohne zu lügen, so mochte, wie ich war, genau so, aber …«
    »Das tue ich, Ellie.« Während ich erzählte, hatte ich auf meine Handflächen gestarrt und war ihre Linien mit den Fingern nachgefahren, doch nun schaute ich auf. Tillmann erwiderte meinen Blick mit fast gewissenhaftem Ernst. Als gehörte es zu seinen Lebensaufgaben, mich zu akzeptieren. Zu respektieren. Und wieder war es da, dieses allumfassende »Ich mag dich«-Gefühl in meinem Kopf und in meinem Herzen, ich bestand nur noch aus diesen drei Wörtern. Ich mag dich. Vielleicht brauchte ich gar kein U-Boot. Vielleicht genügte es, nicht allein mit diesen drei Wörtern zu sein und zu wissen, dass sie erwidert wurden. Nein, ich brauchte kein U-Boot mehr.
    »Komm«, sagte Tillmann so sanft, wie er noch nie mit mir gesprochen hatte, und ging hinaus auf den Balkon, wo er sich auf die Luftmatratze legte und mich zu sich zog. Ich schob meine Hände unter sein T-Shirt und legte meine Fingerspitzen auf sein Herz, um es schlagen zu fühlen und mich von seinem Rhythmus einlullen zu lassen, bis in meinem Kopf Musik dazu entstand, sphärische, beruhigende Klänge, die meinen Atem fließen ließen und es mir leicht machten, mich in meinen Sehnsüchten zu verlieren, für deren Erfüllung es so lange Zeit keine Hoffnung gegeben hatte.
    Ich spürte, dass Tillmanns Gedanken sich zerstreuten und weich wurden, vielleicht erinnerte ihn meine zarte Berührung an etwas, was er vor langer Zeit verloren hatte, an seine erste Liebe, an ein Mädchen, das dieses Herz einst gebrochen hatte, aber meine Hand auf seiner nackten Brust war der Schlüssel zu dem goldenen Reich, das sich uns eröffnen sollte, um zu überstehen, wozu unsere eigenen Kräfte niemals ausreichen würden.
    Tessa.

H EROINEN
    »Schaurig-schön, oder?«
    Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Tillmann und ich waren exakt im gleichen Moment aus unserem träumerischen Schlummer erwacht, weil sich um uns herum etwas veränderte. Nun standen wir nebeneinander auf dem Balkon unseres Dachgeschosses und ließen unsere Augen

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