Dornenkuss - Roman
Galerie hatte Paul die undankbare Aufgabe, seine Wohnung aufzulösen und einen der vielen gierigen Hamburger Immobilienhaie mit deren Verkauf zu betrauen. Auch versuchte er, den gemeinsamen Erbvertrag mit François rückgängig zu machen, was sich als schwierig herausstellte, doch François kam dabei glücklicherweise als Ansprechpartner nicht mehr infrage.
Schon wenige Tage nach seiner Vergiftung durch meine von Colin ausgesaugte Wut wurde François festgenommen, da er sich wahllos Hamburger Passanten auf den Rücken krallte und versuchte, ihre Träume zu trinken, was die Leute im günstigsten Falle als lästig empfanden und sie im schlimmsten Falle vorübergehend an den Rande einer Psychose katapultierte.
François’ Übergriffe waren harmlos, aber auffällig genug, um ihn als nicht gesellschaftsfähig einzuordnen und der geschlossenen Psychiatrie zu übergeben, in der er sich vermutlich selbst Geschossen wie Valium gegenüber als äußerst robust erwies. Doch er konnte wenigstens in ein abgesichertes Einzelzimmer verfrachtet werden und damit keinen weiteren Schaden bei den Touristen der Hansestadt anrichten.
Paul überließ die Verwaltung von François’ Besitz diversen Anwälten, denn es belastete ihn bereits genug, sich um seine eigenen Habseligkeiten kümmern zu müssen, von denen er kaum etwas behalten wollte – nicht einmal seinen geliebten weißen 911er Porsche, mit dem ich damals zu Colin nach Sylt gebrettert war. Ihm schien alles, was mit François zu tun hatte und er sich in der Zeit zusammen mit ihm angeschafft hatte, beschmutzt und mir ging es genauso. Kurz und gut – wir konnten Mama mehr schlecht als recht erklären, warum Paul so unvermittelt seine Galerie und seine Wohnung aufgegeben hatte und sein gesamtes vorheriges Leben in den Boden stampfte. Noch weniger leuchtete ihr ein, wieso er und seine kleine Schwester sich in einer solch desolaten Verfassung befanden, nachdem sie heimgekehrt waren. Meine Blessuren und mein gebrochener Finger waren nicht zu übersehen gewesen. Pauls angeschlagener Gesamtzustand wog fast noch schwerer. Ich hatte gehofft, all seine Zipperlein, ja, sogar sein Herzfehler würden verschwinden, sobald wir ihn aus François’ Klauen befreit hatten. Aber so war es nicht. Er schlug sich mit körperlichen Unzulänglichkeiten herum, die ansonsten Männer jenseits der Midlife-Crisis heimsuchten, aber gewiss nicht Mittzwanziger wie ihn. Und wahrscheinlich war es in Mamas Augen äußerst verdächtig, dass ich neuerdings die Nächte im Internet totschlug und dann nachmittags, bleich und mit Ringen unter den Augen, ein sonniges Plätzchen suchte und jede größere Aufgabe mit den Worten ablehnte, ich müsse mich ein bisschen erholen.
So wie ich es jetzt wieder tat, in diesem kurzen Moment der Vorfreude, während der Wind neue Kraft entfachte, um die Sonne von der riesigen watteweißen Wolke über mir zu befreien. Ich atmete langsam aus. Frieden. Nur einen einzigen Augenblick des Friedens. Ich musste heilen. Heilen, um denken und weitermachen zu können. Um an die Information Nummer drei zu gehen und den roten Faden zu suchen … wir brauchten den roten Faden …
»Ellie! Ellie?«
Die Sonne war da, aber mein Frieden vorbei. Mamas Rufen hatte ihn zerstört. Ich winkelte meine Beine an, damit sie mich nicht sehen konnte, wollte mich ganz in die Rundung der Muschel schmiegen, für den Rest der Welt unsichtbar. Doch das war sinnlos. Mama wusste, wo ich steckte. Ihre Schritte näherten sich bereits.
Ich biss auf meine Unterlippe, um nicht ungerecht zu werden und sie anzuschreien, ihr bitterste Vorwürfe zu machen. Sie hatte mich gerade eine volle Stunde in Frieden gelassen, obwohl sie anfangs noch direkt neben mir Unkraut gejätet hatte und Hilfe hätte gebrauchen können. Eine Stunde, in der sich die Sonne geschätzte zehn Minuten lang gezeigt hatte. Doch dafür konnte Mama nichts.
»Ellie, das solltest du dir ansehen.«
Seufzend zog ich die Stöpsel aus meinen Ohren.
»Was?«, blaffte ich ungehalten und erinnerte mich wie in einem Déjà-vu an diesen bedrückenden Moment vor einem Jahr, als Papa mich aufgefordert hatte, die Begrüßungskarten bei den Nachbarn einzuwerfen. Damals hatte ich ähnlich reagiert und mich ähnlich gestört gefühlt. Doch hätte ich je glücklicher sein können als an diesem kalten Maiabend, als alles erst anfing? Als Papa noch bei uns war, ich Colin kennenzulernen und ihn zu lieben begann, als alles noch möglich war?
Colin? Ein Blitz fuhr durch
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