Dornenkuss - Roman
meinen Bauch. »Das solltest du dir ansehen«, hatte Mama eben gesagt und es hatte sich bedeutsam angehört. Nicht so bedeutsam, dass sie Papa meinen konnte. Nein, wenn Papa überraschend zurückkehrte, würde sie andere Worte wählen.
Aber konnte es sein, dass – dass Colin …? Ich wagte nicht, meinen Gedanken zu vollenden, denn mein Herz pulsierte nur noch synkopisch, statt in einem vernünftigen Rhythmus zu schlagen. Ein unerklärlicher Fluchtimpuls trieb mich dazu, beide Decken von meinem Körper zu strampeln, um weglaufen zu können, falls meine Ahnung sich als richtig erwies.
Mamas Worte hatten nicht nur bedeutsam, sondern auch skeptisch geklungen und sie war gegenüber meiner Verbindung zu Colin seit den Geschehnissen des Winters überaus skeptisch eingestellt. Ja, es konnte sein, dass Colin gekommen war und sie mich darauf hinweisen wollte, doch fühlte ich mich schon imstande, all das zu tun, was seine Anwesenheit erfordern würde? Fühlte ich mich imstande, ihm in die Augen zu sehen?
»Was sollte ich mir anschauen?«, fragte ich Mama erneut, weil sie nicht antwortete. Ich stand auf und schlüpfte in meine Schuhe. Meine dunkle Brille behielt ich an, obwohl die Sonne gerade wieder verschwand. Ich hatte das Gefühl, die schwarzen Gläser schirmten alles Echte, Wahre und Unausweichliche von mir ab. Sie würden mir einen Vorsprung verschaffen, falls meine wildesten Hoffnungen und Befürchtungen sich erfüllen sollten.
»Komm mit.« Mama drehte sich um und lief behände die Steinstiege zu unserem Wintergarten hoch, um Papas Büro anzusteuern, von dessen Fenster aus wir einen ungehinderten Blick auf unseren Hof hatten. Mein Atem stockte, als ich meine Lider hob und nach unten schaute. Zorn und bittere Enttäuschung schnürten mir schlagartig die Kehle zu und wurden für einen Moment so überwältigend, dass ich am liebsten wie ein pubertierendes Mädchen nach oben auf mein Zimmer gerannt wäre und mich aufs Bett geschmissen hätte. Mama konnte nicht entgehen, dass mir das Blut heiß wie Lava ins Gesicht schoss und meine Lippen zitterten, doch ich verschränkte betont kühl die Arme vor meiner Brust; eine Haltung, die Mama in der letzten Zeit selbst immer öfter einnahm, wenn sie sich meiner Sturheit und der meines Bruders nicht mehr gewachsen fühlte. Trotzdem quälte sich mein Atem seufzend durch meine Kehle, als die Enttäuschung dumpf in meine Oberarme stieg. Wieso zum Henker war ich enttäuscht, wenn ich doch eben noch der Meinung gewesen war, es sei zu früh für ein Wiedersehen? Und wieso konnte es überhaupt zu früh sein? Ich sehnte mich doch nach Colin. Was nur stimmte da nicht mehr? War es die Tatsache, dass wir uns begegnen würden, um einen Mord zu vollbringen? Es war ein Mord an einem Dämon, der uns vernichten wollte und unser gesamtes Dasein infrage stellte. Wir mussten es tun! Ich hegte keinen Zweifel, dass Tessa mich bei einer neuerlichen Begegnung bemerken würde; noch einmal würde ich nicht davonkommen. Und dann gab es nur zwei Varianten: Entweder sie verwandelte mich ebenfalls oder sie tötete mich. Ich konnte mir vorstellen, dass dazu ein Blick ihrerseits genügte. Vielleicht sogar ein Gedanke. Bei François hatte ich Skrupel gehabt, den Tod eines anderen Wesens zu beschließen. Bei Tessa blieb mir keine andere Wahl. Sie würde jeden killen, der sich ihr in den Weg stellte; nicht alleine mich, sondern meine ganze Familie.
Lediglich Tillmann würde ein anderes Schicksal ereilen – ihn würde sie niemals töten. Sie würde ihn zum Mahr werden lassen. Vielleicht würde es sogar so ausgehen wie in meinen Träumen. Tessa würde Tillmann nicht nur verwandeln, sondern ihn darauf ansetzen, mich zu jagen und zu befallen. Mein bester Freund würde zu meinem ärgsten Feind werden. Am Wahrheitsgehalt dieser Träume zweifelte ich nie. Ich wusste, dass sie keine Ausgeburten meiner Fantasie, sondern eine Warnung waren. Wahrscheinlich wusste Tillmann es auch.
Wir hatten sie wütend gemacht. Zum ersten Mal hatte Colin sich ihr nicht gefügt, indem er floh und das Mädchen, das er liebte, verließ. Er hatte gegen sie gekämpft und er war zu mir zurückgekehrt. Und obwohl wir beide gespürt hatten, dass sie abermals Colins Fährte aufgenommen hatte und uns wittern konnte, hatten wir uns noch einmal ineinander verloren, bevor Colin ins Meer gegangen war. Tessa musste schäumen vor Zorn und Rachsucht. Ein drittes Mal würde es nicht geben – es sei denn, wir kamen ihr zuvor.
Aber ich brauchte Colin
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