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Der Herr der Falken - Schlucht

Der Herr der Falken - Schlucht

Titel: Der Herr der Falken - Schlucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherine Coulter
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KAPITEL 1
    Gehöft Malverne Vestfold, Norwegen 922 n. Chr.
    Zum ersten Mal hatte Cleve den Traum in der Nacht des dritten Geburtstages seiner Tochter. Er schlief tief im Halbdämmer der Mittsommernacht, in der es nie ganz dunkel wird, als der Traum begann. Er stand auf einem schmalen Felsvorsprung und sog die warme, feuchte Luft ein. Unter ihm rauschte ein Wasserfall, der über glatte Felsen in die Tiefe stürzte. Leichter Nebel hüllte ihn. Plötzlich wurde es kalt, und er hüllte sich fröstelnd enger in seinen Umhang.
    Er stand unter mächtigen Bäumen inmitten rot und weiß blühender niedriger Stauden, die direkt aus den herumliegenden Felsbrocken zu wachsen schienen. Dann folgte er einem gewundenen Pfad und schob tiefhängende Zweige und Blattwerk beiseite. Am Fuße des Hügels wartete ein Pony auf ihn, das rabenschwarz war und eine sternförmige Blesse auf der Stirn hatte. Das Tier schnaubte leise. Cleve kannte das Pony. Er kannte auch die Landschaft mit den Felsbrocken, den Wasserfällen, dem Sprühregen, der schwülen, süßduftenden Luft, die ihm die Tränen in die Augen trieb.
    Auf dem Rücken des Ponys lag ein Wolfsfell, das ein wenig verrutschte, als er aufsaß. Er galoppierte über eine bunte Blumenwiese. Der Sprühregen hörte auf, die Sonne brannte vom Himmel. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Am Rand der Wiese schlug das Pony einen Pfad nach Osten ein. Der Schweiß brannte ihm in den Augen und lief ihm aus allen Poren. Diesen Weg sollte er nicht einschlagen. Bange Furcht krampfte ihm den Magen zusammen. Er sollte in eine andere Richtung reiten, weit fort, um es nie Wiedersehen zu müssen ... was? Er saß auf dem Rücken des Pferdes und schüttelte heftig den Kopf. Nein, er würde nie wieder zurückkehren. Doch er hatte keine Wahl. Und plötzlich war er angekommen und blickte bang auf den mächtigen Holzbau mit seinem moosbedeckten Schindeldach. Es war kein Wohnhaus, es war eine Festung. Und alles war sonderbar still, obgleich Männer und Frauen auf den Feldern arbeiteten, Brennholz heranschafften, Kinder ermahnten. Ein Mann mit mächtigen Armen hob ein Schwert über den Kopf und prüfte sein Gewicht. Kein Laut war zu hören, kein Lachen, keine Wortfetzen. Es herrschte tödliche Stille, und Cleve wußte, daß es nie anders war. Doch dann vernahm er eine leise Stimme aus der Festung. Er zögerte einzutreten. Die Stimme wurde lauter, als das riesige Holztor sich öffnete. Durch die Rauchschwaden einer Feuerstelle sah er Männer, die ihre Äxte schärften und Helme polierten. Er sah Frauen, die webten, nähten und kochten. Eine Alltagsszene, normal und friedlich, und dennoch wollte er weglaufen - aber er war zu keiner Bewegung fähig. Dann sah er sie. Sie stand da mit gesenktem Kopf, ihr goldenes Haar glänzte. Sie war so zierlich und wirkte so wehrlos. Cleve machte einen zögernden Schritt rückwärts, schüttelte den Kopf, und eine schmerzliche Wehmut stieg in ihm auf. Sie hatte seinen Wollumhang gesponnen, gewebt und gefärbt. Er zog ihn eng um die Schultern. Etwas in ihm ahnte die Gefahr, in der sie schwebte. Gleichzeitig wußte er aber, daß er die kommenden Ereignisse nicht aufhalten konnte. Er stand vor der Festung und hörte die gedämpfte Stimme, die irgendwo in der riesigen Halle sprach. Eine tödliche Stimme, die ebenso tödlich war wie der Mann, dem sie gehörte. Bald würde er schweigen. Alle würden schweigen, nur sie nicht. Die tiefe Stimme murmelte weiterhin Worte, bis sie vom gellenden Schrei der Frau unterbrochen wurde. Cleve wußte, was geschehen war.
    Er rannte um sein Leben, hielt vergeblich Ausschau nach dem Pony; es war verschwunden. Er hörte einen Schmerzensschrei, dann noch einen und noch einen. Die Schreie wurden lauter. In ihm breitete sich eine unaussprechliche Leere aus, bis er nichts mehr sah und sich selbst in Nichts aufgelöst hatte.
    Schreiend fuhr er in seinem Kastenbett hoch.
    »Papa.«
    Er hörte ihre helle Stimme, noch bevor er zur Besinnung kam, und bevor er das namenlose Entsetzen abschütteln konnte - ein Entsetzen, das ihn zerfraß. Er wußte ...
    »Papa. Du hast geschrien. Hast du geträumt?«
    »Ja«, brachte er endlich hervor und blickte in das von goldblonden Kringellocken umrahmte Kindergesicht seiner Tochter. »Es war nur ein böser Traum, weiter nichts. Komm Schatz, laß dich umarmen.«
    Er versuchte sich einzureden, daß es nur ein Traum war, ein bedeutungsloser Traum, der vermutlich nur daher rührte, weil er mit vollem Magen zu Bett gegangen

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