Dornroeschenschlaf
lieber Mensch. Shiori ist mal mit ihm zusammengewesen, wenn auch nur für ziemlich kurze Zeit. Ein paar Monate haben sie sogar zusammengelebt.
»Gut, guuut«, sagt er und lacht.
»Was denn – sag bloß, du bist im Dienst?«
Er trägt ein schwarzes Hemd und eine Baumwollhose, was wirklich total nach Freizeitdreß aussieht, und der Umschlag in seiner Hand ist das einzige, was er bei sich hat.
»Was denkst denn duuu! Ich bin gerade auf dem Weg, etwas auszuliefern. Du scheinst immer noch zuviel Zeit zu haben, tyyypisch!« Er hat die Angewohnheit, beim Sprechen immer so süß die Wörter langzuziehen, was sich unheimlich nett anhört. Er steht da unter blauem Himmel und strahlt über beide Ohren.
»Genau. Ich hab Zeit. Absolut nix zu tun«, sage ich.
»Beneidenswert! La dolce viiita! «
»Eben. – Hör mal, du gehst doch bestimmt zum Bahnhof, oder? Dann laß mich doch einfach mitgehen bis zur Ecke da drüben!« Wir setzen uns in Bewegung.
Der blaue Himmel strahlt seltsam kraß, die Umrisse der Gebäude wirken wie ausgeschnitten – ich komme mir schon die ganze Zeit vor wie in einem fremden Land. High Noon in der Stadt bei Sonnenschein kann einem das Gedächtnis und alles ganz schön durcheinanderbringen. Um so schlimmer mitten im Sommer. Ich höre meine nackten Arme förmlich in der Sonne brutzeln.
»Mensch, ist das haaaiiiß!«
»Ja, echt heiß heute!«
»Duuu, ich hab gehört, Shiori ist tooot …!?« sagt er. »Ich hab’s gerade erst erfaaahren.«
»Ja. Ihre Eltern sind extra hierher gekommen aus ihrem Heimatort, es war schrecklich!« Eine selten blöde Reaktion von mir!
»Kann ich mir vooorstellen. Sie soll ja so einen seltsamen Job gehabt haaaben …?«
»Ja, wirklich. Ich hab auch gedacht: Es gibt die eigenartigsten Sachen auf der Welt, mit denen man sein Geld machen kann.«
»Ist sie deswegen gestorben, ich meine, wegen ihrer Aaarbeit?«
»… Ich weiß es nicht. Aber ich glaube eher nicht.«
»Tja, sie selbst wird wohl auch die einzige sein, die das wissen kann. Trotzdem, sie war doch immer so gut drauf und so ein liiieber Mensch! Ich kann mir einfach nicht vooorstellen, was ihr dermaßen auf der Seele gelegen haben soll, daß sie lieber tooot sein wollte.«
»Ich auch nicht.«
Wir schweigen eine Weile und trotten langsam die breite Straße hinunter. Autos fahren vorbei, die Sonne scheint uns direkt ins Gesicht und blendet. Shiori mit nassen Haaren, Shiori beim Nägelschneiden, Shioris Rücken, wenn sie Geschirr abwäscht, ihr schlafendes Gesicht in der Morgensonne … den Menschen da neben mir und mich verbinden diese Szenen, die nur jemand kennen kann, der mit ihr zusammengelebt hat. Diese Vorstellung ist irgendwie sehr verwirrend.
»Und duuu? Brichst du immer noch die Eeehe?« fragt er plötzlich und grinst.
»Ich verbitte mir diese Ausdrucksweise!« sage ich, muß aber auch grinsen. »Aber klar, getrennt haben wir uns jedenfalls noch nicht.«
»Bring dein Liebesleben endlich mal in Ooordnung!« Er sagt das ganz unbekümmert, ohne jeden dunklen Unterton, und das schlägt bei mir um so schwerer ein. »Seit ich dich kenne, hast du immer so einen erwachsenen Eindruck gemacht. Scheinst ein Faible für ältere Männer zu haben, wiiie?«
»Wo du recht hast, hast du recht.« Ich lächele.
Und das, wo ich doch alles so wahnsinnig ernst nehme in diesen Dingen – ich fange schon an, am ganzen Leib zu zittern, wenn ich nur daran denke, daß diese Liebe zu Ende gehen könnte. Andererseits verhalte ich mich die ganze Zeit so, als würde es mich nicht groß wundern, wenn es irgendwann aus wäre – trotzdem, die Flamme meines Gefühls brennt leise weiter.
»Tja, dann tschüüüs, bis irgendwann mal. Gib mir Bescheid, falls es ein Treffen mit den Leuten von früher geben sollte«, sagt er, als wir uns dem Eingang zur U-Bahn-Station nähern, hebt kurz die Hand zum Gruß und verschwindet die Treppe hinunter in den schummrigen Untergrund. Der Abschied fällt mir irgendwie schwer; ich stehe in der sengenden Sonne und sehe ihm lange nach. Eine Leere macht sich in mir breit, als hätte sein Rücken alles Helle, Frohe aus meinem Herzen mit sich fortgetragen.
Damals, sofort nachdem sie mit ihm Schluß gemacht hatte, war Shiori in meine Wohnung eingefallen. Sie bekam von zu Hause regelmäßig Unterhalt, und sie war eigentlich jemand, der es liebte, in geregelten Verhältnissen zu wohnen, aber aus irgendeinem Grund hatte sie keinen Bock auf eine eigene feste Wohnung, und jedesmal, wenn sie umzog,
Weitere Kostenlose Bücher