Drachentränen
gebieten. Kugeln richteten nichts aus, und es war unwahrscheinlich, dass Ticktack auf eine herzliche Bitte reagieren würde.
Außerdem würden sie, wenn sie etwas sagten, nur sich selbst verraten. Der Golem hatte noch kein einziges Mal zu der Empore gesehen, und bisher gab es auch keinen Grund anzunehmen, dass Ticktack mehr als die normalen Sinne benutzte, um sie zu suchen, oder wusste, dass sie in dem Lagerhaus waren.
Doch dann beging Ticktack eine Gräueltat, die deutlich machte, dass er in der Tat mit Absicht ein Chaos verursachen und einen blutigen Tumult hinterlassen wollte. Er blieb vor einem zwanzigjährigen Mädchen mit rabenschwarzen Haaren stehen, das seine schlanken Arme mit einem stürmischen Ausdruck von Freude über den Kopf hielt, wie ihn rhythmische Bewegung und primitiv hämmernde Musik manchmal auch ohne Einfluss von Drogen bei Tanzenden auslösen können. Er ragte einen Augenblick über ihr und betrachtete sie, als ob er von ihrer Schönheit angetan wäre. Dann packte er sie mit seinen riesigen Händen am Arm, verdrehte ihn mit schockierender Brutalität und riss ihn aus dem Schultergelenk. Ein leises, dümmliches Lachen war zu hören, als er den Arm hinter sich warf, wo er zwischen zwei Tänzern in der Luft hängen blieb.
Die Verstümmelung war so unblutig verlaufen, als ob er bloß den Arm einer Schaufensterpuppe ausgehängt hätte; selbstverständlich würde kein Blut fließen, bis die Zeit selbst wieder in Fluss gekommen war. Doch dann würden diese Wahnsinnstat und ihre Folgen nur zu offenkundig werden.
Connie kniff die Augen zusammen, weil sie einfach nicht mit ansehen konnte, was er als nächstes tun würde. Als Polizistin bei der Mordkommission hatte sie zahllose Akte hirnloser Barbarei oder deren Folgen gesehen, sie hatte stapelweise Zeitungsartikel über Verbrechen von eindeutig unmenschlicher Brutalität gesammelt, und sie hatte gesehen, was dieser spezielle psychotische Scheißkerl dem armen Ricky Estefan angetan hatte, doch die Grausamkeit dessen, was er da auf der Tanzfläche getan hatte, erschütterte sie so sehr, wie sie noch nie etwas erschüttert hatte.
Es mochte an der totalen Hilflosigkeit des jungen Opfers liegen, dass Connie so völlig schockiert war und jetzt nicht nur aufgrund innerer oder äußerer Kälte, sondern aus eisigem Entsetzen zitterte. Alle Opfer waren in gewissem Maße hilflos, deshalb wurden sie zur Zielscheibe für die Barbaren in ihrer Umgebung. Doch die Hilflosigkeit dieser hübschen jungen Frau war unendlich viel schrecklicher, weil sie ihren Angreifer nicht hatte kommen sehen, ihn auch nicht gehen sehen und niemals wissen würde, wer er war. Sie wurde so plötzlich getroffen, wie eine unschuldige Feldmaus von den rasiermesserscharfen Krallen eines herabstoßenden Habichts durchbohrt wird, den sie gar nicht hatte auf sich stürzen sehen. Selbst nachdem die junge Frau verstümmelt worden war, war sie sich des Angriffs noch nicht bewusst, sondern in dem letzten Moment reinen Glücks und sorgenfreier Existenz erstarrt, den sie vielleicht je erleben würde. Immer noch lag ein Lächeln auf ihrem Gesicht, obwohl sie für immer zum Krüppel gemacht und vielleicht sogar zum Tode verurteilt worden war. Bis ihr Angreifer ihr die Fähigkeit wiedergab, zu fühlen und zu reagieren, war ihr noch nicht einmal erlaubt, ihren Verlust zu erkennen, die Schmerzen zu spüren oder zu schreien.
Connie wusste, dass sie diesem grauenhaften Feind gegenüber genauso erschreckend verwundbar war wie die junge Tänzerin da unten. Hilflos. Egal, wie schnell sie laufen konnte und wie ausgetüftelt ihre Strategien waren, keine Schutzmaßnahme würde ausreichen, und kein Versteck wäre sicher.
Obwohl sie nie sonderlich religiös gewesen war, konnte sie plötzlich verstehen, wie ein frommer fundamentalistischer Christ bei dem Gedanken erzitterte, dass Satan aus der Hölle befreit würde, um auf der Erde zu wandeln und das Armageddon wahr zu machen. Seine Furcht einflößende Macht. Seine Unbarmherzigkeit. Seine harte, hämische und gnadenlose Brutalität.
Sie spürte eine heftige Übelkeit im Bauch und hatte Angst, sich übergeben zu müssen.
Neben ihr stieß Harry einen ganz leisen, warnenden Pfiff aus, und Connie öffnete die Augen. Sie war entschlossen, ihrem Tod mit allem Widerstand entgegenzutreten, den sie aufbringen konnte, so sinnlos dieser Widerstand auch sein mochte.
Unten im Saal hatte der Golem den Fuß der Treppe erreicht, über die auch sie und Harry auf die Empore
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