Dracyr – Das Herz der Schatten
Schuld stand wie eine Mauer zwischen ihm und allen anderen.
Damian öffnete die Tür und beobachtete sich selbst dabei, wie er die Turmtreppe hinunterlief. Seine FüÃe hatten offenbar einen Entschluss gefasst, ohne ihn seinem Gehirn mitzuteilen.
Er durchquerte den Hauptgang und die groÃe Halle, wurde untertänig gegrüÃt, nickte wortlos, war dankbar, dass niemand mit ihm sprechen wollte. Auch die Diener zogen es vor, ihn zu meiden. Er sah die Blicke, die ihn trafen, und wusste, was sie sagten: Mörder. Schlimmer noch als sein Vater. Der hatte nur Fremde getötet.
Er lief den steilen Gang zum Pferch hinunter und sein Herz schlug schnell und schmerzhaft. Noctyria wusste, dass er kam, und ihre Gedanken hätten ihn zu Tränen gerührt, wenn er nur gewusst hätte, wie man weint.
Damian trat durch die Schleuse und ging eilig auf Tyrias Nest zu. Er wollte niemandem begegnen, weder Kay noch Sam. Der Pferchwächter musste sich fragen, warum Damian nicht mehr kam, genauso wie Noctyria. Er nickte zwei Pferchwächtern zu, die sich duckten und unsichtbar zu machen versuchten. Angst, wohin er blickte. Angst, Abscheu, Hass. Hatte sich sein Vater so gefühlt? War es das, was Herrschaft bedeutete? Oder ging es um das, was er getan hatte?
Er bemerkte zu spät, dass neben dem Eingang zu Noctyrias Nest zwei Menschen standen, die leise miteinander sprachen. Sie verstummten, als er näher kam, und sahen ihn an. Ihre Blicke rissen ihn aus seiner Versunkenheit und er blieb jäh stehen. Sam. Und Kay.
Er räusperte sich und wusste nicht, wen er ansehen sollte. Sam senkte den Blick und drehte einen Lappen, den er zwischen den Fingern hielt, zu einer Wurst zusammen. » Eure Lordschaft « , sagte er. » Wie können wir Euch dienen? «
Damian schnürte es die Kehle zu. » Danke « , erwiderte er schroffer, als es seine Absicht war. » Ich brauche dich im Moment nicht. «
» Sehr wohl, Mylord « , sagte Sam. Er hob schwerfällig einen Korb mit Gerätschaften auf und ging. Damian biss sich auf die Lippe. Wie grob er zu dem alten Mann gewesen war, der ihn immer behandelt hatte wie seinen eigenen Sohn. Ein kurzer, heftiger Schmerz zuckte durch seine Brust, den er schnell niederkämpfte. Er konnte sich keine Gefühle mehr leisten. Zu viel davon, es machte ihn weich und verwundbar. Sein Vater hatte recht gehabt: Emotionen waren etwas für Schwächlinge. Er hob das Kinn und sah Kay an.
Ihr Blick war unverwandt auf ihn gerichtet. Das Streiflicht aus dem Gang lieà ihr Gesicht weich und schutzlos erscheinen. Ihr Haar glänzte wie Rabenschwingen, ihre Augen waren tief und dunkel wie der sommerliche Nachthimmel, ihre Lippen so sanft geschwungen und rosig, dass er kaum den Blick von ihnen wenden konnte. Wieder wurde seine Kehle eng, aber dieses Mal wollte er nicht mit Härte dagegen ankämpfen. Er sah die verblassten Male auf der weiÃen Haut ihres Halses und hob die Hand, um sie behutsam zu berühren. Sie wich nicht zurück. » Kay « , sagte er ihren Namen wie ein Gebet. » Ich habe dich vermisst. «
Sie sah ihn immer noch an. Er hätte in ihren Augen versinken mögen. Eintauchen, untergehen, ertrinken in der dunkelblauen Tiefe. Es wäre ein schöner Tod gewesen, ein sanfter Tod, ein willkommener Tod.
Unwillkürlich machte er noch einen Schritt auf sie zu. Seine Hand, die immer noch auf den Spuren der Würgemale lag, die sein Vater ihr beigebracht hatte, schob sich in ihren Nacken, umfing ihren Kopf, seine Finger gruben sich in ihr Haar. Ihr Zopf schlang sich schwer um seine Hand. Er näherte seinen Mund ihren Lippen, verharrte. » Geht es dir wieder gut? « , flüsterte er.
Sie nickte stumm. In ihrem Blick schimmerte das Dracyrfeuer, glomm auf, erlosch in dem feuchten Glanz von Tränen. » Warum bist du nicht gekommen? « , fragte sie. » Ich habe auf dich gewartet. Ich war sogar oben im Turm, aber die Wache hat mich nicht zu dir vorgelassen. «
Der sanfte Vorwurf, die tiefe Trauer in ihrer Stimme stach mit Messerklingen in sein wundes Herz. Er suchte nach Worten. Fand sie nicht. Verschloss seinen Mund und ihre Lippen mit einem Kuss voller Verzweiflung.
Sie erwiderte den Kuss nicht, schmiegte sich nicht an ihn. Er seufzte in ihren Mund hinein und legte seine Arme um sie, zog sie an sich. Sie sträubte sich nur kurz, dann schmolz sie in seine Umarmung und er spürte ihre Tränen auf seinen Wangen, als
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