Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Drei Dichter ihres Lebens

Drei Dichter ihres Lebens

Titel: Drei Dichter ihres Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
Vom Netzwerk:
das Dasein anklammern, wie mächtig und wie präzise bewußt der vielfältige Eindrang der Welt bei dem Kinde Tolstoi sich bereits in deutliche Impressionen umsetzt, und mag nun ermessen, wie erst der Erwachsene jeden Eindruck subtilisieren und andererseits steigern wird. Da wird dies kleine spielhaft-kindische Wohlbehagen an dem winzigen Eigenleib in der engen Wanne sich notwendig ausweiten zu einer wilden und beinahe wütigen Daseinslust, die genau wie das Kind Außen und Innen, Welt und Ich, Natur und Leben vermengt in ein einziges hymnisches Rauschgefühl. Und tatsächlich, dieser Rausch der Identität mit dem All überkommt den Vollerwachsenen manchmal wie eine große Trunkenheit; man lese nur, wie der schwere Mann sich manchmal aufhebt und hinausgeht in den Wald, die Welt anzublicken, die ihn ausgewählt hat unter Millionen, sie mächtiger und wissender zu fühlen als alle andern, wie er plötzlich mit ekstatischer Gebärde die Brust spannt und die Arme aus sich schleudert, als könnte er in der anbrausenden Luft das Unendliche fassen, das ihn innen bewegt; oder wie er, nicht minder erschüttert vom Winzigsten ebenso wie von der kosmischen Fülle der Natur, sich niederbeugt, eine einzige zertretene Distel zärtlich geradezufalten oder das flirrende Spiel einer Libelle leidenschaftlich zu betrachten, und dann, von Freunden beobachtet, rasch sich seitlings wendet, um die Träne nicht zu verraten, die ihm die Augen überströmt. Kein Dichter der Gegenwart, auch Walt Whitman nicht, hat die physische Lust der irdischen, der fleischlichenOrgane so stark empfunden, wie dieser russische Mensch mit seiner Sinnenbrünstigkeit Pans und der großen Allgegenwart eines antikischen Gottes. Und man begreift sein stolz-überschwengliches Wort: »Ich selbst bin Natur.«
    Unerschütterlich, selbst ein Weltall im Weltall, wurzelt also dieser massige weitwipflige Mann in seiner moskowitischen Erde: nichts, meint man, könnte darum seine mächtige Weltlichkeit erschüttern. Aber die Erde, selbst sie bebt manchmal, vom Seismos berührt, und so taumelt manchmal, media in vita, mitten aus seiner Sicherheit Tolstoi empor. Mit einem Mal wird das Auge starr, die Sinne schwanken und greifen ins Leere. Denn irgend etwas ist in sein Blickfeld getreten, das er nicht fassen kann, etwas, was außen bleibt von der warmen Leibes- und Lebensfülle, etwas, was er nicht versteht, so sehr auch alle Nerven sich spannen – unfaßbar bleibend für ihn, den Sinnenmenschen, weil nicht Ding dieser Erde, ein Stoff, den er nicht ansaugen und amalgamieren kann, etwas, was verweigert, sich antasten, abwägen, einordnen zu lassen in das allzeit durstige Weltgefühl. Denn wie den Schreckgedanken fassen, der plötzlich den runden Raum der Erscheinung zerschneidet, wie sich's ausdenken, daß diese strömenden, atmenden Sinne einmal stumm sein könnten und taub, die entfleischte Hand ohne Gefühl, daß dieser nackte gute Leib, jetzt noch durchwärmt vom Geström des Blutes, Wurmfraß werden könnte und steinkaltes Skelett? Wie, wenn das auch in ihn einbräche, heute oder morgen, dieses Nichts, dieses Schwarze, dieses Dahintersein, dieses nicht Abzuwehrende, wenn es einbräche, das Unsinnlich-Gegenwärtige, in ihn, der eben noch strotzt von Säften und Mächten? Immer wenn Tolstoi der Gedanke an die Vergänglichkeit überfällt, stockt ihm das Blut. Die erste Begegnung geschieht dem Kinde: man führt ihn zur Leiche der Mutter, da liegt etwas kalt und starr, das gestern noch Leben war. Achtzig Jahre lang kann er den Anblick nicht vergessen, den er damals sich noch nicht in Gefühl und Gedanken zu erläutern vermag. Aber einen Schrei stößt das fünfjährige Kind aus, einen entsetzten, gellenden Schrei und flüchtet in toller Panik aus dem Zimmer, alle Erinnyen der Angst hinter sich her. Immer fällt so stoßhaft, so erdrosselnd der Todesgedanke über ihn her, wie sein Bruder stirbt, sein Vater, seineTante: immer fährt sie ihm kalt über das Genick, diese eisige Hand, und reißt ihm die Nerven entzwei.
    1869, noch vor der Krise, aber nur knapp ihr voraus, schildert er das weiße Entsetzen, la blanche terreur, eines solchen Überfalls. »Ich versuchte mich niederzulegen, aber kaum hingestreckt, reißt mich ein Entsetzen wieder empor. Es ist eine Angst, eine Angst wie vor dem Erbrechen, irgend etwas zerreißt mein Dasein in Stücke, ohne es aber ganz zu zerreißen. Ich versuche, noch einmal zu schlafen, aber der Schrecken war da, rot, weiß, irgend etwas zerreißt in

Weitere Kostenlose Bücher