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Drei Dichter ihres Lebens

Drei Dichter ihres Lebens

Titel: Drei Dichter ihres Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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mir und hält mich dennoch zusammen.« Das Furchtbare ist geschehen: ehe der Tod auch nur einen Finger in Tolstois Leibe hat, vierzig Jahre vor seinem wirklichen Tode, ist sein Vorgefühl schon in die Seele des Lebendigen gedrungen, nie mehr ganz zu verjagen. Große Angst sitzt nachts an seinem Bette, sie frißt an der Leber seiner Lebensfreude, sie hockt zwischen den Blättern seiner Bücher und zernagt die angefaulten schwarzen Gedanken.
    Man sieht: übermenschlich wie seine Vitalität ist Tolstois Todesangst. Zaghaft wäre es, sie noch Nervenfurcht zu nennen, vergleichbar etwa der neurasthenischen eines Novalis, der melancholischen Überschattung Lenaus, der Phobie Edgar Allan Poes, dem mystischen Wollustgrauen – nein, hier bricht ein ganz tierisch-nackter, ein barbarischer Terror heraus, ein krasses Entsetzen, ein Angstorkan, eine Panik des auf geschmetterten Lebenssinns. Nicht wie ein mannhaft-heroischer Geist erschrickt Tolstoi vor dem Tode, sondern gleichsam von rotglühendem Eisen gebrandmarkt und nun lebenslänglich Sklave dieses Grauens zuckt er auf, gell schreiend, unbeherrscht: seine Angst entlädt sich als durchaus bestialische Schreckexplosion, als Schock – die menschgewordene Urangst aller Kreatur. Er will sich nicht anfassen lassen von diesem Gedanken, er will nicht, er weigert sich und spreizt wie ein Gewürgter abwehrend die Gelenke; denn, vergessen wir nicht, Tolstoi wird vollkommen unvermutet inmitten einer maßlosen Sicherheit überfallen. Diesem moskowitischen Bären fehlt ja zwischen Tod und Leben jede Überleitung – der Tod ist für einen so elementar Gesunden absoluter Fremdstoff, indes für den mittleren Menschen sonst gewöhnlich sich zwischen Tod und Leben eine oft begangene Brücke spannt: die Krankheit. Die andern, die Durchschnittsfünfzigjährigen,haben alle oder die meisten schon ein Stück Tod in sich latent, sein Nahsein ist ihnen kein vollkommenes Außen, keine Überraschung mehr: darum schauern sie nicht so unbeherrscht vor seinem ersten energischen Griff. Ein Dostojewski etwa, der mit verbundenen Augen, der Salve gewärtig, am Pfahl gestanden und in epileptischen Krämpfen jede Woche hinschlägt, sieht als Leidgewöhnter dem Todesgedanken gefaßter ins Auge als der völlig Ahnungslose, der strotzend Gesunde; so fällt ihm auch der Schlagschatten jener vollkommen aufgelösten, beinahe schimpflichen Angst nicht so eisig ins Blut wie Tolstoi, der bei dem ersten Nahegefühl des Gedankens Tod schon zu schlottern beginnt. Ihm, der nur in der Überfülle sein Ich, in dem »Trunkensein von Leben« das Leben einzig vollwertig empfindet, bedeutet die leiseste Verminderung der Vitalität eine Art Krankheit (mit sechsunddreißig Jahren nennt er sich einen »alten Mann«). Eben zufolge dieser Empfindlichkeit trifft ihn der Todesgedanke durch und durch wie ein Schuß. Nur wer so vital das Dasein empfindet, kann absolut komplementär das Nichtsein mit solcher Intensität fürchten; gerade weil sich hier eine wahrhaft dämonische Lebenskraft gegen eine ebenso dämonische Todesangst aufreckt, entsteht bei Tolstoi eine solche Gigantomachie zwischen Sein und Nichtsein, die größte vielleicht der Weltliteratur. Denn nur Riesennaturen leisten riesigen Widerstand: ein Herrenmensch, ein Willensathlet wie Tolstoi kapituliert nicht ohne weiteres vor dem Nichts – sofort nach dem ersten Schock rafft er sich auf, reißt die Muskeln zusammen, um den plötzlich aufgesprungenen Feind zu besiegen: nein, eine prallvolle Vitalität wie die seine gibt sich nicht kampflos besiegt. Kaum erholt von dem ersten Schrecken, verschanzt er sich in Philosophie, zieht die Brücken hoch und überschüttet den unsichtbaren Feind mit Katapulten aus dem Arsenal seiner Logik, um ihn wegzutreiben. Verachtung ist seine erste Gegenwehr: »Ich kann mich für den Tod nicht interessieren, hauptsächlich aus dem Grunde, weil er, solange ich lebe, nicht existiert.« Er nennt ihn »unglaubwürdig«, behauptet hochfahrend, daß er »nicht den Tod fürchte, sondern nur die Todesfurcht«, er versichert unablässig (durch dreißig Jahre!), daß er ihn nicht fürchte, nicht angstvoll an ihn denke. Aber er täuscht niemanden, nicht einmal sich selbst. Kein Zweifel: der Wall derseelisch-sinnlichen Sicherheit ist beim ersten Ansturm jener Angstneurose schon durchbrochen, und Tolstoi kämpft vom fünfzigsten Jahr nur noch auf Trümmern seines einstigen vitalen Selbstvertrauens. Er muß, Schritt um Schritt zurückweichend, zugeben, daß

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