Drei Dichter ihres Lebens
was im Binnendasein der Wille energisch verhält. Seiner Leidenschaften Leidenschaft war darum die Jagd: da können alle Sinne sich ausschwelgen, die hellen wie die dunklen. Der vorapostolische Tolstoi berauscht sich am schweißigen Geruch der Pferde, an der Aufregung tollkühnen Reitens, des nervenspannenden Hetzens und Zielens, an der Angst sogar (unfaßbar dies für den späteren Mitleidsfanatiker), an der Qual des niedergerissenen, blutigen, mit brechenden Augen aufstarrenden Wilds. »Ich empfinde ein wahrhaftes Wonnegefühl bei dem Leiden des verendenden Tieres«, gesteht er, als er einem Wolf mit wuchtigem Stockhieb den Schädel einschmettert, und bei diesem triumphierenden Aufschrei der Blutlust ahnt man erst alle die brutalen Instinkte, die er ein Leben lang (außer in den tollwütigen Jahren der Jugend) in sich niedergehalten hat. Noch zur Zeit, da er aus moralischer Überzeugung der Jagd längst entsagt hat, zucken ihm immer unwillkürlich die Hände schußgierig auf, wenn er einen Hasen im Felde aufspringen sieht. Aber er zwingt diese wie jede andere Lust beharrlich entschlossen nieder; schließlich begnügt seine sinnliche Freude am Körperlichen sich mit dem bloßen Anschauen und Nachbilden des Lebendigen – aber welch eine vehemente und wissendeFreude noch immer! Glückseliges Lachen schiebt ihm jedesmal breit die Lippen auseinander, wenn er an einem schönen Pferde vorbeikommt; beinahe wollüstig klopft und tätschelt er ihm den warmen seidigen Bug und läßt sich voll die pochende tierische Wärme in die Finger gleiten: alles rein Animalische begeistert ihn. Er kann stundenlang mit verzückten Augen den Tanz junger Mädchen nur um der Anmut der gelockerten Leiber willen betrachten; und wenn ihm ein schöner Mann, eine Frau begegnet, so bleibt er stehen, vergißt sich im Gespräch, nur um sie besser anzustaunen und begeistert auszurufen: »Wie wunderbar ist es doch, wenn der Mensch schön ist!« Denn er liebt den Körper als das Gefäß des lebendigen Lebens, als fühlende Fläche des Lichts, als Hülle des heiß strömenden Blutes, er liebt ihn in all seiner warm wogenden Fleischlichkeit als den Sinn und die Seele des Lebens.
Ja, er liebt als der leidenschaftlichste Animalist der Literatur seinen Körper wie der Künstler sein Instrument; er liebt den Leib als die naturhafteste Form des Menschen und sich selbst in seinem elementaren Körper mehr als in seiner brüchigen und doppelzüngigen Seele. Er liebt ihn in allen Formen und Zeiten von Anfang bis zu Ende, und der erste Bewußtseinsbericht dieser autoerotischen Leidenschaft reicht – kein Schreibfehler dies! – zurück bis in sein zweites Lebensjahr! In das zweite Lebensjahr – dies will betont sein, damit man begreift, wie kieselhell und linienscharf bei Tolstoi jede Erinnerung unter dem Geström der Zeit sichtbar bleibt. Während Goethe und Stendhal kaum bis zum siebenten oder achten Jahre sich deutlich zurückbesinnen, empfindet Tolstoi als Zweijähriger schon mit genauso konzentrisch gesammelter Vielfalt aller Sinne wie der spätere Künstler. Man lese diese Schilderung seines ersten Körperempfindens: »Ich sitze in einer Holzbadewanne, ganz eingehüllt in den mir neuen, aber nicht unangenehmen Geruch einer Flüssigkeit, mit der man meinen Körper reibt. Es wird wohl Kleienwasser gewesen sein, das ich höchstwahrscheinlich bekam; die Neuheit des Eindrucks wirkt auf mich, und ich bemerke zum erstenmal wohlgefällig meinen kleinen Körper mit den vorn an der Brust sichtbaren Rippen und die glatten dunklen Wangen, die aufgestreckten Ärmel meiner Pflegerin und auch das warme, dampfende Kleienwasser und seinen Geruch, am stärkstenaber das Gefühl der Glätte, das die Wanne in mir hervorrief, sooft ich mit meiner kleinen Hand darüberfuhr.«
Nachdem man dies gelesen, zerlege und ordne man diese Kindheitserinnerungen nach ihren sensuellen Zonen, um die universelle Wachheit der Sinne richtig zu bestaunen, mit der Tolstoi schon in der winzigen Larve des Zweijährigen die Umwelt erfaßt: er sieht die Wärterin, er riecht die Kleie, er unterscheidet schon den neuartigen Eindruck, er fühlt die Wärme des Wassers, er hört das Geräusch, er tastet die Glätte der Holzwand, und all diese gleichzeitigen Wahrnehmungen der verschiedenen Nervenstränge münden in die einmütig »wohlgefällige« Selbstbetrachtung des Körpers als der einzig fühlsamen Fläche aller Lebensempfindungen. Dann begreift man, wie früh hier Saugnäpfe der Sinne sich schon an
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