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Drei Dichter ihres Lebens

Drei Dichter ihres Lebens

Titel: Drei Dichter ihres Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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wesenhafter als der Hund, der ihm nachläuft, und der Stein wiederum, den dieser mit den Pfoten tritt. Alles im Kreise des Irdischen, Mensch und Masse, Pflanzen und Tiere, Männer und Frauen, Greise und Kinder, Feldherrn und Bauern strömen als sinnliche Schwingung mit derselben kristallenen Lichtgleichmäßigkeit in seine Organe ein, um ihnen ebenso ordnungshaft zu entströmen. Das gibt seiner Kunst etwas vom Ebenmaß der allzeit wahrhaftigen Natur und seiner Epik jenen meerhaft monotonenund doch großartigen Rhythmus, der immer wieder den Namen Homers beschwört.
    Wer so viel und so vollkommen sieht, braucht nichts zu erfinden, wer dermaßen dichterisch beobachtet, nichts zu erdichten. Absoluter Wachkünstler im Gegensatz zu Dostojewski, dem Visionär, braucht er die Schwelle des Wirklichen nirgends zu überschreiten, um an das Außerordentliche zu gelangen; er holt nicht Geschehnisse aus einem überweltlichen Phantasieraum heran, sondern gräbt nur in gemeine Erde, in den gewöhnlichen Menschen seine kühnen und verwegenen Stollen hinab. Und im Menschlichen wiederum kann Tolstoi sich's erübrigen, abwegige und pathologische Naturen zu betrachten oder gar über sie hinaus wie Shakespeare und Dostojewski geheimnisvoll neue Zwischenstufen zwischen Gott und Tier, Ariels und Aljoschas, Kalibans und Karamasows zu erzaubern. Schon der alltäglichste, der banalste Bauernbursche wird in jener nur von ihm erreichten Tiefe Geheimnis: ihm genügt als Einstieg in die profundesten Schächte seiner Seelenreiche schon ein simpler Bauer, ein Soldat, ein Trunkenbold, ein Hund, ein Pferd, ein Irgendetwas, gewissermaßen das billigst vorkömmliche Menschenmaterial, keine kostbaren subtilen Seelen: diesen vollkommen durchschnittlichen Gestalten aber zwingt er ein seelisch Unerhörtes ab, und zwar nicht, indem er sie verschönt, sondern indem er sie vertieft. Sein Kunstwerk spricht nur diese eine Sprache der Wirklichkeit – dies seine Grenze –, sie aber vollkommener, als vor ihm ein Dichter sie gesprochen dies seine Größe. Für Tolstoi sind Schönheit und Wahrheit ein und dasselbe.
    So ist er – um es nochmals und deutlicher zu sagen – der sehendste aller Künstler, aber kein Seher, der vollendetste aller Wirklichkeitsberichter, aber kein erfinderischer Dichter. Nicht durch die Nerven wie Dostojewski, nicht durch Visionen wie Hölderlin oder Shelley holt sich Tolstoi seine raffiniertesten Wahrnehmungen heran, sondern einzig durch die koordinierte Aktion seiner radial wie das Licht ausschwingenden Sinne. Wie Bienen schwärmen sie ständig aus, ihm immer neuen farbigen Staub der Beobachtung zu bringen, der dann, in leidenschaftlicher Sachlichkeit gegoren, sich zum goldflüssigen Seim des Kunstwerks formt. Nur sie, seine wunderbar gehorsamen, hellsichtigen, hellhörigen, starknervigenund doch feintastenden, seine auswägenden, überempfindlichen und fast tierisch witternden Sinne bringen ihm von jeder Erscheinung jenes beispiellose Material an sinnlicher Substanz zu, das dann die geheimnisvolle Chemie dieses flügellosen Künstlers genauso langsam in Seele umsetzt, wie ein Chemiker ätherische Stoffe aus Pflanzen und Blüten geduldig destilliert. Immer resultiert die ungeheure Einfachheit des Erzählers Tolstoi aus einer ungeheuren und gar nicht nachrechenbaren Vielfalt von Myriaden Einzelbeobachtungen. Wie ein Arzt beginnt er zunächst mit einer Generalaufnahme, einer Inventur aller körperlichen Eigenheiten bei dem einzelnen, ehe er den epischen Destillationsprozeß auf die ganze Welt seiner Romane anwendet. »Sie können sich gar nicht vorstellen«, schreibt er einmal einem Freunde, »wie schwer mir diese vorbereitende Arbeit fällt, die Notwendigkeit, erst einmal das Feld durchzupflügen, auf dem ich dann gesonnen bin zu säen. Es ist furchtbar schwer, zu denken und immer wieder zu überdenken, was sich alles ereignen kann mit allen erst werdenden Personen des in Aussicht genommenen, sehr umfangreichen Werkes. Es ist furchtbar schwer, die Möglichkeiten so vieler Aktionen zu bedenken, um aus diesen dann ein Millionstel zu wählen.« Und da dieser mehr mechanische als visionäre Prozeß bei jeder einzelnen Person sich wiederholt, berechne man, wie viele Staubkörner in dieser Geduldmühle zerrieben und neu gebunden werden müssen. Jede Einzelheit, jeder Mensch resultiert aus tausend Einzelheiten, jede Einzelheit aus weiteren Infinitesimalen, denn mit der kalten und unbeirrbaren Gerechtigkeit einer Vergrößerungslinse

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