Drei Dichter ihres Lebens
sich länger und logischer, er denkt rascher, kombinatorischer und präziser, kurz, jede menschliche Eigenschaft bildet sich in dem einzig vollkommenen Apparat seines Organismus mit verhundertfachter Intensität als in einergewöhnlichen Natur heraus. Aber niemals überschwebt Tolstoi – (und deshalb wagen so wenige zu ihm das Wort: »Genie«, das bei Dostojewski selbstverständliche) – die Schranke der Normalität, niemals erscheint Tolstois Dichten vom Dämon, vom Unbegreiflichen beseelt. Wie vermag diese erdgebundene Phantasie jenseits »des sachlichen Gedächtnisses« etwas zu erfinden, was außerhalb des Gemeinmenschlichen nicht schon vorhanden wäre, immer wird darum seine Kunst fachlich, sachlich, deutlich; menschlich verbleiben, eine Taglichtkunst, eine potenzierte Wirklichkeit; darum meint man, wenn er erzählt, nicht einen Künstler, sondern die Dinge selbst sprechen zu hören. Menschen und Tiere treten aus seinem Werk wie aus ihrer eigenen warmen Wohnstatt; man fühlt, kein passionierter Dichter drängt hinter ihnen, der sie hetzt und hitzt, etwa wie Dostojewski seine Gestalten immer mit der Fieberpeitsche knutet, daß sie heiß und schreiend in die Arena ihrer Leidenschaften stürzen. Wenn Tolstoi erzählt, hört man seinen Atem nicht. Er erzählt, wie Bergbauern eine Höhe emporklimmen: langsam, gleichmäßig, stufenhaft, Schritt für Schritt, ohne Sprünge, ohne Ungeduld, ohne Ermüdung, ohne Schwäche; daher auch unser unerhörtes Beruhigtsein des Mit-ihm-Gehens. Man schwankt, man zweifelt, man ermüdet nicht, man steigt Schritt für Schritt an seiner ehernen Hand die großen Bergblöcke seiner Epen empor, und Stufe um Stufe wächst mit erweitertem Horizonte der Überblick. Langsam nur entrollen sich die Geschehnisse, erst allmählich erhellt sich die Fernsicht, aber all dies geschieht mit der unausbleiblichen uhrhaften Gewißheit, die bei einem morgendlichen Sonnenaufgang Zoll um Zoll aus der Tiefe eine Landschaft emporleuchten läßt. Tolstoi erzählt ganz unbetont einfach, wie jene Epiker der ersten Zeiten, die Rhapsoden und Psalmisten und Chronisten ihre Mythen erzählten, als noch die Ungeduld nicht unter den Menschen war, die Natur noch nicht getrennt von ihren Geschöpfen, keine humanistische Rangordnung Mensch und Tier, Pflanzen und Steine hochmütig unterschied und der Dichter dem Kleinsten und Gewaltigsten noch gleiche Ehrfurcht und Göttlichkeit gab. Für ihn besteht kein Unterschied zwischen dem heulenden Zucken eines verreckenden Hundes und dem Tode eines ordenbeladenen Generals oder dem Hinfall eines vom Wind zerknickten, absterbendenBaumes. Schönes und Häßliches, Tierisches und Pflanzliches, Reines und Unreines, Magisches und Menschliches, all dies sieht er mit dem gleichen malerischen und doch durchseelenden Blick – man spielte mit dem Wort, wollte man unterscheiden, ob er den Menschen vernatürlicht oder die Natur vermenschlicht. Keine Sphäre innerhalb des Irdischen bleibt ihm darum verschlossen, sein Gefühl gleitet aus dem rosigen Leib eines Säuglings in das schlotternde Fell eines abgetriebenen Stallpferdes und aus dem Kattunrock eines Dorfweibs in die Uniform des erlauchtesten Feldherrn, in jedem Leib, in jeder Seele gleich wissend und bluthaft daheim mit einer unbegreiflichen Sicherheit allergeheimster, fleischhaftester Wahrnehmung. Oft haben Frauen erschrocken gefragt, wie dieser Mann ihre verdecktesten und nicht mitzuerlebenden Körpergefühle gleichsam unter der Haut herausschildern konnte, das drückende Ziehen in der Brust von quellender Milch bei Müttern oder die wohltuend rieselnde Kälte über den zum erstenmal auf dem Ball entblößten Armen eines jungen Mädchens. Und wenn den Tieren eine Stimme gegeben wäre, ihr Staunen ins Wort zu treiben, so würden sie fragen, dank welcher unheimlichen Intuition er die quälende Lust eines Jagdhundes beim nahen Geruch der Wildschnepfe oder die nur in Bewegung gekleideten Instinktgedanken eines Vollbluthengstes am Start erraten konnte – man lese die Schilderung jener Jagd in »Anna Karenina« –, Detailwahrnehmungen von einer visionären Präzision, die alle Experimente der Zoologen und Entomologen von Buffon bis Fabre schildernd vorausnehmen. Tolstois Exaktheit in der Beobachtung ist an keine Abstufungen innerhalb des Irdischen gebunden: er hat keine Vorliebe in seiner Liebe. Napoleon ist seinem unbestechlichen Blick nicht mehr Mensch als der letzte seiner Soldaten und dieser letzte wiederum nicht wichtiger und
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