Drei Meister. Balzac – Dickens – Dostojewski
hat. Beispiellos ist die Beliebtheit dieses Autors gewesen: wenn sie sich im Laufe der Jahre nicht steigerte, so war es nur, weil die Leidenschaft keine höheren Möglichkeiten mehr kannte. Als Dickens sich entschloß, öffentlich zu lesen, als er zum erstenmal seinem Publikum Auge in Auge entgegentrat, war England im Taumel. Man stürmte die Säle, pfropfte sie voll, an den Säulenpfeilern klammerten sich Enthusiasten an, krochen unter sein Podium, nur um den geliebten Dichter hören zu können. In Amerika schliefen die Leute bei bitterster Winterkälte auf mitgebrachten Matratzen vor den Kassen, Kellner brachten ihnen das Essen aus den benachbarten Restaurants, aber der Andrang wurde unaufhaltsam. Alle Säle wurden zu klein, und man räumte schließlich dem Dichter in Brooklyn eine Kirche ein als Vorlesesaal. Von der Kanzel las er die Abenteuer Oliver Twists und die Geschichte der kleinen Neil. Launenlos war dieser Ruhm,er drängte Walter Scott zur Seite, überschattete ein Leben lang das Genie Thackerays; und als die Flamme erlosch, als Dickens starb, ging es wie ein Riß durch die ganze englische Welt. Auf der Straße erzählten es Fremde einander, Bestürzung verstörte London wie nach einer verlorenen Schlacht. Zwischen Shakespeare und Fielding bettete man ihn, in Westminster Abbey, dem Pantheon Englands; Tausende strömten hinzu, und tagelang war die schlichte Gedenkstätte überflutet von Blumen und Kränzen. Und noch heute, nach vierzig Jahren, kann man selten vorübergehen, ohne ein paar von dankbarer Hand hingestreute Blüten zu finden: der Ruhm und die Liebe ist nicht gewelkt in all den Jahren. Heute wie damals in jener Stunde, da England dem Ahnungslosen, dem Namenlosen das unverhoffte Geschenk des Weltruhms in die Hand drückte, ist Charles Dickens der geliebteste, umworbenste und gefeierteste Erzähler der ganzen englischen Welt.
Eine so ungeheuerliche, gleicherweise in die Breite wie in die Tiefe dringende Wirkung eines dichterischen Werkes kann nur durch das seltene Zusammentreffen zweier meist widerstrebender Elemente Wirklichkeit werden: durch die Identität eines genialen Menschen mit der Tradition seiner Zeit. Im allgemeinen wirken das Traditionelle und das Geniale gegeneinander wie Wasser und Feuer. Ja, es ist beinahe das Merkzeichen des Genies, daß es als verkörperte Seele einer werdenden Tradition die vergangene befeindet, daß es als Ahnherr eines neuen Geschlechtes dem absterbenden Blutfehde ansagt. Ein Genie und seine Zeit sind wie zwei Welten, die zwar Licht und Schatten miteinander tauschen, aber in anderen Sphären schwingen, die sich auf ihren kreisenden Bahnen begegnen, aber nie vereinen. Hier ist nun jene seltene Sekunde des Sternenhimmels, wo der Schatten des einen Gestirns die leuchtende Scheibe des anderen so ausfüllt, daß sie sich identifizieren: Dickens ist der einzige große Dichter des Jahrhunderts, dessen innerste Absicht sich ganz mit dem geistigen Bedürfnis seiner Zeit deckt. Sein Roman ist absolut identisch mit dem Geschmack des damaligen England, sein Werk ist die Materialisierung der englischen Tradition: Dickens ist der Humor, die Beobachtung, die Moral, die Ästhetik, dergeistige und künstlerische Gehalt, das eigenartige und uns oft fremde, oft sehnsüchtig-sympathische Lebensgefühl von sechzig Millionen Menschen jenseits des Ärmelkanals. Nicht er hat dieses Werk gedichtet, sondern die englische Tradition, die stärkste, reichste, eigentümlichste und darum auch gefährlichste der modernen Kulturen. Man darf ihre vitale Kraft nicht unterschätzen. Jeder Engländer ist mehr Engländer als der Deutsche Deutscher. Das Englische liegt nicht wie ein Firnis, wie eine Farbe über dem geistigen Organismus des Menschen, es dringt ins Blut, wirkt regelnd ein auf seinen Rhythmus, durchpulst das Innerste und Geheimste, das Ureigenste im Individuum: das Künstlerische. Auch als Künstler ist der Engländer mehr rassepflichtig als der Deutsche oder Franzose. Jeder Künstler in England, jeder wahrhafte Dichter hat darum mit dem Englischen in sich gerungen; aber selbst inbrünstigster, verzweifeltster Haß haben es nicht vermocht, die Tradition niederzuzwingen. Sie reicht mit ihren feinen Adern zu tief hinab ins Erdreich der Seele: und wer das Englische ausreißen will, zerreißt den ganzen Organismus, verblutet an der Wunde. Ein paar Aristokraten haben es, voll Sehnsucht nach freiem Weltbürgertum, gewagt: Byron, Shelley, Oskar Wilde haben den Engländer in sich vernichten
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