Drei Meister. Balzac – Dickens – Dostojewski
Lebens auf. Und zugleich mit diesen wirklichen Formen faßt er auch das Unfaßbare, die gasförmig über ihnen schwebende Atmosphäre von Glück und Unglück, die zwischen Himmel und Erde schwebenden Erschütterungen, die nahen Explosionen, die Wetterstürze der Luft. Was den anderen eben nur Umriß ist, was sie sehen, kalt und ruhig wie unter einer gläsernen Vitrine, das fühlt seine magische Sensibilität wie in der Hülse des Thermometers als atmosphärischen Zustand.
Dieses ungeheure, unvergleichlich intuitive Wissen ist das Genie Balzacs. Was man dann noch den Künstler nennt, den Verteiler der Kräfte, den Ordner und Gestalter, den Zusammenhaltenden und Lösenden, den spürt man nicht so deutlich bei Balzac. Man wäre versucht zu sagen, er war gar nicht das, was man Künstler nennt, so sehr war er Genie. »Une telle force n'a pas besoin d'art.« Das Wort gilt auch von ihm. Denn wirklich, hier ist eine Kraft, so grandios und so groß, daß sie wie die freiesten Tiere des Urwaldes der Zähmung widerstrebt, sie ist schön wie ein Gestrüpp, ein Sturzbach, ein Gewitter, wie alle jene Dinge, deren ästhetischer Wert einzig in der Intensität ihres Ausdrucks besteht. Ihre Schönheit bedarf nicht der Symmetrie, der Dekoration, der nachhelfenden, sorglichen Verteilung, sie wirkt durch die ungezügelte Vielfalt ihrer Kräfte. Balzac hat seine Romane nie genau komponiert, er hat sich in ihnen verloren wie in einer Leidenschaft, in den Schilderungen, im Wort gewühlt wie in Stoffen oder nacktem blühendem Fleisch. Er reißt Gestalten auf, hebt sie von allen Ständen, Familien, von allen Provinzen Frankreichsaus, wie Napoleon seine Soldaten, teilt sie in Brigaden, macht den einen zum Reiter, stellt den anderen zu den Kanonen und den dritten zum Train, schüttet Pulver auf die Pfannen ihrer Gewehre und überläßt sie dann ihrer inneren ungebändigten Kraft. Die »Comédie humaine« hat trotz der schönen – aber nachträglichen! – Vorrede keinen inneren Plan. Sie ist planlos, wie das Leben ihm selbst planlos erschien, sie zielt nicht auf eine Moral hin und nicht auf eine Übersicht, sie will als Wandelndes das ewig sich Wandelnde zeigen; in all diesem Ebben und Fluten ist keine dauernde Kraft, sondern nur jene unkörperliche, wie aus Wolken und Licht gewebte Atmosphäre, die man Epoche nennt. Dieses neuen Kosmos einziges Gesetz wäre, daß alle die Menschen, deren unbeständige Vereinung erst die Epoche ausmacht, ebenso von der Epoche geschaffen werden, daß ihre Moral, ihre Gefühle ebenso Produkte sind wie sie selbst. Daß, was in Paris Tugend genannt wird, hinter den Azoren ein Laster sei, daß für nichts feste Werte vorhanden seien und daß leidenschaftliche Menschen die Welt so werten müssen, wie Balzac sie die Frau werten läßt: daß sie immer wert sei, was sie ihn koste. Aufgabe des Dichters, dem – schon weil er selbst nur Produkt, Kreatur seiner Zeit ist – versagt ist, das Bleibende aus diesem Wandel zu gewinnen, kann nur sein, den atmosphärischen Druck, den geistigen Zustand seiner Epoche zu schildern, das Wechselspiel der gemeinsamen Kräfte. Meteorologe der sozialen Luftströmungen, Mathematiker des Willens, Chemiker der Leidenschaften, Geologe der nationalen Urformen – ein vielfältiger Gelehrter zu sein, der mit allen Instrumenten den Körper seiner Zeit durchdringt und behorcht, und gleichzeitig ein Sammler aller Tatsachen, ein Maler ihrer Landschaften, ein Soldat ihrer Ideen, das zu sein ist Balzacs Ehrgeiz, und darum war er so unermüdlich im Verzeichnen ebenso der grandiosen wie der infinitesimalen Dinge. Und so ist sein Werk nach dem Dauerwort Taines das größte Magazin menschlicher Dokumente seit Shakespeare geworden. Balzac will nicht am Einzelwerk gemessen werden, sondern am Ganzen, will betrachtet sein wie eine Landschaft mit Berg und Tal, unbegrenzter Ferne, verräterischen Klüften und raschen Strömen. Mit ihmbeginnt – man könnte fast sagen, hört auch auf, wäre nicht Dostojewski gekommen – der Gedanke des Romans als Enzyklopädie der inneren Welt. Die Dichter vor ihm wußten nur zweierlei, um den schläfrigen Motor der Handlung nach vorne zu treiben: sie statuierten entweder den von außen wirkenden Zufall, der wie ein scharfer Wind sich in die Segel legte und das Fahrzeug nach vorne trieb, oder sie wählten als die von innen treibende Kraft einzig den erotischen Trieb, die Peripetien der Liebe. Balzac nun hat eine Transponierung des Erotischen vorgenommen. Für ihn gab es
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