Drei Meister. Balzac – Dickens – Dostojewski
tauschen. Es gibt bei ihm seelische Chiffrierungen, ganz winzige physische und psychische Zeichen, deren Sinn erst beim zweiten, beim dritten Lesen offenbar wird. Kein Epiker hat ein gleichsam so durchnervtes System des Erzählens, ein so unterirdisches Gewirr der Begebenheit unter dem Knochenwerk des Geschehnisses, unter der Haut des Dialogs. Und doch, System kann man es kaum nennen: nur mit der scheinbaren Willkürlichkeit und doch geheimnisvollen Ordnung des Menschen selbst läßt sich dieser psychologische Prozeß vergleichen. Während die anderenepischen Künstler, insbesondere Goethe, mehr die Natur als den Menschen nachzuahmen scheinen und das Geschehnis organisch wie eine Pflanze, bildhaft wie eine Landschaft genießen lassen, erlebt man einen Roman Dostojewskis wie die Begegnung mit einem sonderbar tiefen und leidenschaftlichen Menschen. Dostojewskis Kunstwerk ist urirdisch bei aller Ewigkeit, unberechenbar und unergründbar, wie die Seele es in den Grenzen ihrer Körperlichkeit ist, und unvergleichbar innerhalb der Formen der Kunst.
Damit soll keineswegs gesagt sein, daß diese Romane an sich alle vollendete Kunstwerke wären, ja sie sind es viel weniger als manche ärmere Werke, die engere Kreise ziehen und sich mit Schlichterem bescheiden. Der Maßlose kann das Ewige erreichen, aber nicht nachbilden. Aber diese Ungeduld Dostojewskis, sie führt von der Tragödie seiner Kunst in die seines Lebens zurück. Denn dies war äußeres Schicksal und nicht innere Leichtfertigkeit bei ihm ebenso wie bei Balzac, daß er getrieben war vom Leben zur Eiligkeit und zu sehr gehetzt, um die Werke vollendet zu gestalten. Man vergesse nicht, wie diese Werke entstanden sind. Immer war schon der ganze Roman verkauft, während Dostojewski noch das erste Kapitel schrieb, jede Arbeit eine Hetzjagd von Vorschuß zu neuem Vorschuß. »Wie ein alter Postgaul« arbeitend, auf der Flucht durch die Welt, fehlt es ihm manchmal an Zeit und Ruhe, die letzte Feile anzulegen, und er weiß es selbst, der Wissendste aller, und empfindet es wie Schuld! »Mögen sie doch sehen, in welchem Zustande ich arbeite. Sie verlangen von mir schlackenlose Meisterwerke, und aus bitterster, elendster Not bin ich zur Eile gezwungen«, schreit er erbittert auf. Er flucht Tolstoi und Turgenjew, die, gemächlich auf ihren Gütern sitzend, die Zeilen runden und ordnen können, und denen er um nichts sonst neidisch ist. Keine Armut scheut er persönlich, aber der Künstler, erniedrigt zum Proletarier der Arbeit, schäumt gegen die »Gutsherrnliteratur« aus der unbändigen Sehnsucht des Artisten, einmal in Ruhe, einmal in Vollendung gestalten zu können. Jeden Fehler in seinen Werken kennt er, er weiß, daß nach seinen epileptischen Anfällen die Spannung nachläßt, die straffe Hülle des Kunstwerks gleichsam undicht wird und Gleichgültigeseinströmen läßt. Oft müssen ihn Freunde oder seine Frau auf grobe Vergeßlichkeiten aufmerksam machen, die er in jener Verdunklung der Sinne nach dem Anfall begeht, wenn er die Manuskripte liest. Dieser Proletarier, dieser Taglöhner der Arbeit, dieser Sklave des Vorschusses, der in der Zeit seiner ärgsten Not drei gigantische Romane hintereinander schreibt, ist innerlich der bewußteste Artist. Er liebt fanatisch die Goldschmiedearbeit, das Filigran der Vollendung. Noch unter der Peitsche der Not feilt und bosselt er stundenlang an einzelnen Seiten, zweimal vernichtet er den »Idioten«, obzwar seine Frau hungert und die Hebamme noch nicht bezahlt ist. Unendlich ist sein Wille zur Vollendung, aber auch die Not ist unendlich. Wieder ringen die beiden gewaltigsten Mächte um seine Seele, der äußere Zwang und der innere. Auch als Künstler bleibt er der große Zerspaltene der Zweiheit. Wie der Mensch in ihm ewig nach Harmonie und Ruhe, so dürstet der Künstler in ihm ewig nach Vollendung. Hier wie dort hängt er mit zerrissenen Armen am Kreuze seines Schicksals.
Auch die Kunst also, auch sie, die Einzig-Eine, ist nicht Erlösung dem Gekreuzigten des Zwiespaltes, auch sie Qual, Unruhe, Hast und Flucht, auch sie nicht Heimat dem Heimatlosen. Und die Leidenschaft, die ihn in die Gestaltung treibt, sie jagt ihn über die Vollendung hinaus. Auch hier wird er über die Vollendung gehetzt dem ewig Endlosen zu; mit ihren abgebrochenen Türmen, den nicht zu Ende gebauten (denn die Karamasow ebenso wie der Raskolnikow versprechen beide einen zweiten, nie geschriebenen Teil), ragen seine Romanbauten in das Gewölk der ewigen
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