Drei Meister. Balzac – Dickens – Dostojewski
innerlich belebt. Man hat mit ihnen Straßen durchwandert, in Häusern gesessen, und plötzlich, bei zufälligem Besinnen, entdeckt man, daß diese ganze ungeheure Fülle von Geschehnissen in einem Ablauf von kaum zwölf Stunden vor sich ging, von Morgen bis Mitternacht. Ebenso ist die phantastische Welt der Karamasow in bloß ein paar Tage, die Raskolnikows in eine Woche zusammengeballt – Meisterstücke der Gedrängtheit, wie sie ein Epiker noch nie und selbst das Leben nur in den seltensten Augenblicken erreicht. Einzig die antike Tragödie des Ödipus etwa, die in der engenSpanne von Mittag bis Abend ein ganzes Leben und das vergangener Generationen zusammendrängt, kennt diesen rasenden Niedersturz von Höhe zu Tiefe, aber auch diese reinigende Kraft der seelischen Gewitter. Mit keinem epischen Werk läßt sich diese Kunst vergleichen, und darum wirkt Dostojewski immer in seinen großen Augenblicken als Tragiker, seine Romane gleichsam wie umhüllte, verwandelte Dramen; im letzten sind die Karamasow Geist vom Geiste der griechischen Tragödie, Fleisch vom Fleische Shakespeares. Nackt steht in ihnen, wehrlos und klein, der riesige Mensch unter dem tragischen Himmel des Schicksals.
Und seltsam, in diesen leidenschaftlichen Augenblicken der Niederstürze verliert plötzlich der Roman Dostojewskis auch seinen erzählerischen Charakter. Die dünne epische Umschalung schmilzt ab in der Hitze des Gefühls und verdunstet; nichts bleibt als der blasse weißglühende Dialog. Die großen Szenen in Dostojewskis Romanen sind nackte dramatische Dialoge. Man kann sie, ohne ein Wort beizufügen oder fortzulassen, auf die Bühne pflanzen, so festgezimmert ist jede einzelne Figur, so zur dramatischen Sekunde verdichtet sich in ihnen der breite strömende Gehalt der großen Romane. Das tragische Gefühl in Dostojewski, das immer zu Endgültigem drängt, zur gewaltsamen Spannung, zur blitzartigen Entladung, schafft in diesen Höhepunkten sein episches Kunstwerk scheinbar restlos zum dramatischen um.
Was in diesen Szenen an dramatischer, ja theatralischer Schlagkraft enthalten ist, haben selbstverständlich die eilfertigen Theaterhandwerker und Boulevarddramatiker zuerst erkannt, lang vor den Philologen, und rasch einige robuste Theaterstücke aus dem »Raskolnikow«, dem »Idioten«, den »Karamasow« gezimmert. Aber hier hat sich erwiesen, wie kläglich solche Versuche scheitern, Figuren Dostojewskis von außen, von ihrer Körperlichkeit und ihrem Schicksal zu fassen, sie aus ihrer Sphäre, der Seelenwelt, zu heben und von der gewitternden Atmosphäre der rhythmischen Reizbarkeit abzulösen. Wie abgeschälte Baumstämme, nackt und leblos, wirken diese Figuren dramatisch im Vergleich zu ihrer lebendigen, raunenden, rauschenden Wipfelhaftigkeit, die an die Himmel rührt undjede doch mit tausend geheimen Nervenfäden im epischen Erdreich wurzelt. Die Psychologie Dostojewskis ist keine für grelles Lampenlicht, sie spottet ihrer »Bearbeiter« und Vereinfacher. Denn in dieser epischen Unterwelt gibt es geheimnisvolle psychische Kontakte, Unterströmungen und Nuancierungen. Nicht aus sichtbaren Gesten, sondern aus tausend und tausend einzelnen Andeutungen bildet und formt sich bei ihm eine Gestalt, nichts Spinnwebzarteres kennt die Literatur, als dies seelische Netzwerk. Um einmal die Durchgängigkeit dieser subkutanen, gleichsam unter der Haut fließenden Unterströmungen der Erzählung zu empfinden, versuche man zur Probe einen Roman Dostojewskis in einer der gekürzten französischen Ausgaben zu lesen. Es fehlt anscheinend nichts darin: der Film der Geschehnisse rollt geschwinder ab, die Figuren erscheinen sogar agiler, geschlossener, leidenschaftlicher. Aber doch, sie sind irgendwo verarmt, ihrer Seele fehlt jener wunderbare irisierende Glanz, ihrer Atmosphäre die funkelnde Elektrizität, jene Schwüle der Spannung, die erst die Entladung so furchtbar und so wohltätig macht. Irgend etwas ist zerstört, das nicht wieder zu ersetzen ist, ein Zauberkreis gebrochen. Und gerade aus diesen Versuchen von Kürzungen und Dramatisierung erkennt man den Sinn der Breite bei Dostojewski, die Zweckhaftigkeit seiner scheinbaren Weitschweifigkeit. Denn die kleinen, flüchtigen, gelegentlichen Andeutungen, die ganz zufällig und überflüssig scheinen, sie haben Erwiderung hundert und hundert Seiten später. Unter der Oberfläche der Erzählung laufen solche Leitungen verborgener Kontakte, die Meldungen weitertragen, geheimnisvolle Reflexe
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