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Drei Meister. Balzac – Dickens – Dostojewski

Drei Meister. Balzac – Dickens – Dostojewski

Titel: Drei Meister. Balzac – Dickens – Dostojewski Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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Fragen. Nennen wir sie nicht Roman mehr und werten wir sie nicht mit epischem Maß: sie sind längst nicht mehr Literatur, sondern irgendwie geheime Anfänge, prophetische Vorklänge, Präludien und Prophetien eines Mythus vom neuen Menschen. Wie alle seine erlauchten russischen Ahnen empfindet Dostojewski die Kunst nur als Brücke des Bekenntnisses vom Menschen zu Gott. Erinnern wir uns nur: Gogol wirft nach den »Toten Seelen« die Literatur fort und wird Mystiker, geheimnisvoller Bote des neuen Rußland, Tolstoi verflucht, ein Sechzigjähriger, die Kunst, die eigene und die fremde, und wird Evangelist der Güteund Gerechtigkeit, Gorki verzichtet auf den Ruhm und wird Verkünder der Revolution. Dostojewski hat bis zur letzten Stunde die Feder nicht gelassen, aber was er gestaltet, ist längst nicht mehr ein Kunstwerk im irdischen engen Sinne, sondern irgendein Mythus der neuen russischen Welt, eine apokalyptische Verkündung, dunkel und rätselhaft. Und eben weil dies Letzte in ihnen nur geahnt und nicht in vergängliche Form gegossen ist, sind sie Wege zur Vollendung des Menschen und der Menschheit.
    Der Überschreiter der Grenzen
    Daß du nicht enden kannst, das macht dich groß.
    Goethe
    Tradition ist steinerne Grenze von Vergangenheiten um die Gegenwart: wer ins Zukünftige will, muß sie überschreiten. Denn die Natur will kein Innehalten im Erkennen. Zwar scheint sie Ordnung zu fordern und liebt doch nur den, der sie zerstört um einer neuen Ordnung willen. Immer schafft sie sich in einzelnen Menschen durch Übermaß ihrer eigenen Kräfte jene Konquistadoren, die von den heimischen Ländern der Seele in die dunklen Ozeane des Unbekannten hinausfahren zu neuen Zonen des Herzens, neuen Sphären des Geistes. Ohne diese kühnen Überschreiter wäre die Menschheit in sich gefangen, ihre Entwicklung ein Kreisgang. Ohne diese großen Boten, in denen sie sich gleichsam selbst vorauseilt, wäre jede Generation unkund ihres Weges. Ohne diese großen Träumer wüßte die Menschheit nicht um ihren tiefsten Sinn. Nicht die ruhigen Erkenner, die Geographen der Heimat, haben die Welt weit gemacht, sondern die Desperados, die über unbekannte Ozeane zum neuen Indien fuhren: nicht die Psychologen, die Wissenschaftler, haben die moderne Seele in ihrer Tiefe erkannt, sondern die Maßlosen unter den Dichtern, die Überschreiter der Grenzen.
    Von diesen großen Grenzüberschreitern der Literatur ist Dostojewski in unseren Tagen der größte gewesen, und keiner hat so viel Neuland der Seele entdeckt als dieser Ungestüme, dieser Maßlose, dem nach seinem eignen Wort»das Unermeßliche und Unendliche so notwendig war wie die Erde selbst«. Nirgends hat er innegehalten, »überall habe ich die Grenze überschritten«, schreibt er stolz und selbstanklagend in einem Briefe, »überall«. Und unmöglich ist es fast, alle seine Taten aufzuzählen, die Wanderungen über die eisigen Grate des Gedankens, die Niederstiege zu den verborgensten Quellen des Unbewußten, die Aufstiege, die gleichsam traumwandlerischen Aufstiege zu den schwindelnden Gipfeln des Selbsterkennens. Ohne ihn, den großen Überschreiter alles Maßes, wüßte die Menschheit weniger um ihr eingeborenes Geheimnis, weiter
    als je blicken wir von der Höhe seines Werkes in das Zukünftige hinein.
    Die erste Grenze, die Dostojewski durchstieß, die erste Ferne, die er uns auftat, war Rußland. Er hat seine Nation für die Welt entdeckt, unser europäisches Bewußtsein erweitert, als erster die Seele des Russen uns als Fragment und als ein Kostbarstes der Weltseele erkennen lassen. Vor ihm bedeutete Rußland für Europa eine Grenze: den Übergang gegen Asien, einen Fleck Landkarte, ein Stück Vergangenheit unserer eigenen barbarischen, überwundenen Kulturkindheit. Er aber zeigte als erster uns die zukünftige Kraft in dieser Öde, seit ihm fühlen wir Rußland als eine Möglichkeit neuer Religiosität, als ein kommendes Wort im großen Gedichte der Menschheit. Er hat das Herz der Welt so reicher gemacht um eine Erkenntnis und um eine Erwartung. Puschkin (der uns ja schlecht zugänglich ist, weil sein poetisches Medium in jeder Übertragung
    die elektrische Kraft verliert) hat uns nur die russische Aristokratie gezeigt, Tolstoi wiederum den einfachen, patriarchalischen bäurischen Menschen, die Wesen der alten, abgeteilten, abgelebten Welt. Erst er entzündet uns die Seele mit der Verkündung neuer Möglichkeiten, erst er entflammt den Genius dieser neuen Nation. Und gerade

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